Reporter Benedict Wermter: Bis einer heult

Früher lebte Benedict Wermter einige Jahre als Punk. Heute ist er Investigativjournalist, hartnäckig auf den Spuren dreister Umweltsünder. Über einen Reporter, der Widerstände liebt. Aus der Serie „Mein Beat“.

Anarchie, das war ein Spiel, das war Leichtsinn, das war Räuber und Gendarm – bis eines Nachts an die 30 Polizisten ihre WG stürmten. Eine Stunde zuvor waren Benedict und die Mitbewohner seiner Punker-WG grölend nach Hause gezogen, plötzlich klopfte es an der Wohnungstür, einer öffnete, schon „sind alle Mann bei uns rein, haben uns übel beleidigt, mit uns gerangelt und alles durchsucht“, sagt Wermter, und zwar ohne Durchsuchungsbefehl. Danach alle mit auf die Wache, Leibesvisitation, für einige Stunden in eine Zelle, „Polizeigewalt light“. 

Mit 16 hatte er die Schule geschmissen. Daheim lief es nicht gut und ihn deprimierte der Gedanke, in einen vorgefertigten Lebenslauf gepresst zu werden, in eine Scripted Reality aus Schule, Studium, Job. Also schloss er sich den Punks an, die er in der Fußgängerzone gesehen hatte. So begann eine „wilde Phase, die mir unglaublich viel gebracht hat“. 

Ihn wird man so schnell nicht mehr los: „Wenn man mich irgendwo rausschmeißt, komme ich garantiert durch die Hintertür wieder rein“, sagt Benedict Wermter. Foto: Paulina Hildesheim.

Wir telefonieren per Whatsapp. Gerade ist Wermter in Medan, auf Sumatra, seit einem Jahr ist er mit einer Indonesierin verheiratet. Er lebt weiter in Berlin, möchte aber mit seiner Frau, eigentlich Bankerin, einen Social-Media-Kanal für junge Indonesier gründen, um ihnen Umweltthemen nahezubringen. In Deutschland ist er soeben mit seinem Team mit dem Otto-Brenner-Preis ausgezeichnet worden für die Doku „Die Recyclinglüge“. 

Aber erstmal – das volle Punk-Programm: Lederjacke mit Nieten, Metall im Gesicht, oben auf dem Kopf Iro, seitlich ein Leopardenfellmuster. Er lebte von Hartz IV und seinem Kindergeld, wurde von Nazis gejagt, zog in eine WG nach Hochfeld, einem sozialen Brennpunkt von Duisburg, folgte einer Punk-Band auf Europatournee – und hörte sich die Geschichten der anderen an, die oft von Schlägen, Geschrei oder Einsamkeit handelten. Extreme Lebensläufe, extreme Momente, „live fast, die young, du rechnest jeden Moment mit dem Tod, das hatte etwas sehr Befreiendes“.

Noch etwas geschah in dieser Zeit: Befeuert durch den WG-Überfall der Polizisten politisierte er sich. Nie hätte er gedacht, dass jugendlicher Übermut solch eine Reaktion provozieren könnte. „Ich habe die Macht von ihrer hässlichen Seite kennengelernt“, sagt Wermter, Jahrgang 1987, „mein Vertrauen in den Staat war erstmal erschüttert.“ 

Und das Punk-Leben wurde allmählich auch langweilig. Er holte sein Abi nach, begann mit Kampfsport, entdeckte den Reiz und die Macht des Investigativjournalismus und sprach eines Tages vor bei David Schraven, der damals die Recherche-Abteilung der WAZ leitete. Der sagte ihm, hemdsärmelig wie stets: Klar, kannst morgen früh um sieben anfangen. 

Es folgten: ein Volontariat bei Correctiv, ausgedehnte Recherchen in Asien, nicht selten für Stiftungen, Arbeit als freier Reporter. Schon immer hatten ihn außergewöhnliche Typen mit außergewöhnlichen Lebensläufen interessiert, über die schrieb er nun: der Arzt, der den Lady-boys in Bangkok die Brüste macht, der Israeli, der in Amsterdam Designerdrogen erfindet, der Polizist in Manila, dessen Einheit Junkies erschießt. 

Da war es wieder, das Gegen-den-Strom-Schwimmen: eher nicht auf Twitter herum meinen, eher nicht auf Branchenempfängen herumstehen, eher nicht den Boulevard aus linken Modethemen bedienen, eher keine Festanstellung, eher nicht eitel sein und an der eigenen Autorenmarke basteln, „lieber ein Motorrad mieten, MacBook in den Rucksack und los“, sagt er. 

Allein – es rechnete sich nicht, diese langen Reportagen zu schreiben und vielleicht nur einmal zu verkaufen. Und ihm ging das Klinkenputzen bei den Redaktionen auf den Sack, die sich vielleicht erst nicht zurückmeldeten und dann noch das Honorar drücken wollten. Die Arroganz und Naivität in den Redaktionen, immerzu nach den Deutschen unter den Opfern zu suchen. Und er hatte – über eine Recherche zum Thema Teppiche – inzwischen seine Methode und sein Thema entdeckt. Die Methode: unbedingte Hartnäckigkeit. Das Thema: Müll. 

Wer mit ihm zusammengearbeitet hat, hat es erlebt: die Beharrlichkeit, die Ausdauer und Wucht, mit der er sich in seine Storys hineinwühlt. Die Lust, mit der er die „Zwiebel schält“, um ins Innerste etwa der Müllbranche zu gelangen. „Wenn man mich irgendwo rausschmeißt, komme ich garantiert durch die Hintertür wieder rein“, sagt Wermter. Er liebe den Moment, wenn das Visier hochgehe und die Betroffenen wüssten: Dieser Typ ist jetzt an uns dran und wir werden ihn nicht wieder los. 

An einem Montag im Juni, um kurz vor 23 Uhr, läuft in der ARD die Doku „Die Recyclinglüge“, die er gemeinsam mit dem Filmemacher Tom Costello gedreht hatte. Mehr als eine Million Menschen bleiben dran, eine super Quote für diesen Sendeplatz. Sie sehen einen Film, der schockiert und empört. Man sieht darin, wie eine schamlose Lobby aus Ölkonzernen, Chemiefirmen, Lebensmittelgiganten und Entsorgungskonzernen uns mit dem Versprechen einlullt, Recycling sei die Lösung, man werde das Plastik schon wiederverwerten. 

In der Serie „Mein Beat“ stellt Autor Ariel Hauptmeier Reporterinnen und Rechercheure vor, die uns inspirieren. Weil sie mit Energie und Handwerk ihrem Herzensprojekt nachgehen – ihrem ganz eigenen „Beat“.

Und das ist eben eine Lüge: Weil das, was wir in den Gelben Sack sortieren, zu höchstens 10 Prozent so recycelt wird, dass es Neumaterial ersetzt – und zu über 50 Prozent verfeuert wird, meist in den Öfen von Zementwerken. Ganz zu schweigen von ärmeren Ländern: Dort bleibt Plastikmüll einfach liegen, wird auf Feldern verbrannt, oder landet in den Flüssen und im Meer, verseucht die Welt und macht uns krank.

Im Film sieht man Wermter in Aktion: Wie er mit seinem Team in der Türkei mit versteckter Kamera kriminelle Müllentsorger trifft oder heimlich auf einem Hinterhof in Bulgarien herumschleicht, wo er illegal aus England importierte Müllballen findet. Plastikschrott, den dort Ehrenamtliche gesammelt haben für Terra-cycle, einen Recyclinggiganten aus den USA – in dem guten Glauben, die Firma werde das Zeug wiederverwerten und daraus etwa Tischtennisplatten machen. Doch auch das ist eine Lüge, mit der sie Tom Szaky, den CEO von Terracycle, vor laufender Kamera konfrontieren, eine Sternstunde des investigativen Journalismus. 

Längst kommen Leute aus der Wertschöpfungskette des Plastiks auf Wermter zu, Professoren, Ingenieure, die mal Sinnvolles mit ihrer Arbeit tun wollten und doch nur beitragen zur ewig anschwellenden Müllwelle. So fand sich Wermter kürzlich per Videoschalte im Hobbykeller jenes belgischen Ingenieurs wieder, der für den Schweizer Zementgiganten Holcim ein besonders schönes Neusprechwort erfunden hat – man könne das Verbrennen von Plastikschrott im Zementwerk ja auch „Co-Processing“ nennen. 

„Meine Waffe ist das Telefon“, sagt Wermter, „ich rufe alle an.“ Bis er noch den Letzten dran hat. 

Zuletzt hat Wermter für den SWR – gemeinsam mit dem Müllexperten Michael Billig – eine Kurzdoku über die „Reifen-Mafia“ gedreht. Rund 700.000 Tonnen Reifen fallen pro Jahr in Deutschland an, Sondermüll, schwierig zu verwerten. Fachgerechte Entsorgung ist teuer, und weil sich Müll „immer das billigste Loch“ sucht, sind auch hier längst Kriminelle eingestiegen. Ein Gewerbeschein genügt, schon können sie sich fürs „Entsorgen“ bezahlen lassen und die Reifen irgendwo verbrennen oder verbuddeln, eine extreme Belastung für die Umwelt. 

Er ist jetzt drin im Thema, er wird weitermachen, rausgehen, recherchieren, dranbleiben, den Leuten „so lange auf die Nerven gehen, bis einer heult“. Viel zu wenig werde heute recherchiert, sagt er, viel zu oft hingen Kolleginnen und Kollegen im Internet herum, geben ihren Senf zu den Modethemen dazu, gießen Öl ins Feuer – und treiben die Menschen auseinander. „Ich finde das gefährlich“, sagt Wermter, „der Journalismus ist heute viel zu polarisiert“. 

Und trage dazu bei, dass sich die Welt polarisiere. Dass sich die Menschen immer absurderen Ideen zuwenden. So wie er selbst, damals, als er noch überzeugter Anarchist war. 

 

Dieser Text stammt aus Ausgabe 05/22 von „medium magazin“. Die aktuelle Ausgabe 02/23 mit einer Recherche zu Funke-Chefin Julia Becker, einem Praxis-Special zu KI-Tools für Medienprofis, dem Dossier „Macht“ sowie ganz viel Nutzwert für die journalistische Berufspraxis ist ab 4. Mai digital oder als Printausgabe hier erhältlich oder im ikiosk