Medium Magazin 01/2019
EDITORIAL / Annette Milz, Chefredakteurin
Erklärungsbedarf
Im Jahr 2000 empfing uns Rudolf Augstein zum Interview in seinem Privathaus am Hamburger Leinpfad. Krank und schon gebrechlich, aber hellwach.
Kurz vorher war er von einer medium-magazin-Jury zum „Journalist des Jahrtausends“ gewählt worden. Das Gespräch über sein Lebenswerk, den Spiegel und dessen Zukunft dauerte eine gute Stunde. Genau erinnere ich mich nicht mehr an die Länge, wohl aber an die Art der Antworten des Spiegel-Gründers: präzise und druckreif.
Kurz darauf schickte ich seiner Bürochefin das Gespräch zur Autorisierung. Und machte das erste Mal Erfahrung mit der Spiegel-Dokumentation: Jeder Satz, jedes Wort, jede Zahl wurde auf Korrektheit seziert und geprüft. Mehrfach ging es hin und her, schriftlich und telefonisch. Die legendäre „Dok“ des Spiegel wurde ihrem Ruf mehr als gerecht: Vor ihrer Kontrolle waren alle gleich, auch Gründer Augstein.
Die Dokumentation war mehr als Legende: Sie war ein kaum zu erreichendes Vorbild, die meisten Redaktionen wären schon froh über einen Bruchteil dieser Verifikations-Möglichkeiten, die der Spiegel-Redaktion zur Verfügung stehen. Und das alles soll jetzt nicht mehr gut sein, seit aufflog, dass Starreporter Relotius über Jahre hinweg systematisch seine Texte gefälscht hat? Nein. Das Gegenteil muss doch jetzt erst recht gelten.
Lernen aus Fehlern – das gilt für den Spiegel wie für uns alle. Hätten wir aufmerksamer sein können, sein müssen, als wir Claas Relotius 2012 zu den Top 30 bis 30 wählten – ein damals 26-jähriges Ausnahmetalent, dessen Beiträge bereits von allen möglichen großen renommierten Medien im In- und Ausland gedruckt wurden? Hätten die Alarmglocken läuten müssen? Damals, als er uns auf die Frage nach seinen Vorbildern antwortete: „Jeder Chef oder Ressortleiter hilft, indem er einem vertraut, einen machen lässt und offen für Ideen ist. Marc Fischer (…) hat mir darüber hinaus gezeigt, wie gut Auslandsjournalismus und freies Autorentum zusammen funktionieren können – obwohl oder vielleicht auch gerade weil sich dies heute kaum noch jemand traut.“ Marc Fischer war eine Ikone des Popjournalismus, der vielen als Vorbild galt – auch Cordt Schnibben, nachzulesen im Vorwort zum Sammelband mit Fischers Reportagen „Die Sache mit dem Ich“. War das ein genereller Fehler? Nein. Die Frage ist nur, wann und warum beginnt eine Entwicklung, wie sie der junge Relotius genommen hat? Antworten darauf stehen noch immer aus. Sie müssen uns weiter beschäftigen.
Michael Bröcker, Chef der Rheinischen Post, hat in einem vielbeachteten Beitrag für kress.de geschrieben: „Wir sind Handwerker des Erzählens, keine Lyriker. Das ist auch alles, was man zum Fall Relotius sagen muss.“ Er hat recht – insoweit es die durchaus im Journalismus verbreitete Haltung betrifft, mit dem Finger gerne auf andere zu zeigen. Wir haben uns gefragt, was können wir selbst nun tun gegen den Vertrauensverlust? Transparenz und Aufklärung tun dringend Not – und wo könnte man besser ansetzen als in Schulen, bei Jugendlichen.
Unsere Idee: Nach demVorbild der SZ-Werkstattgespräche, die Klaus Ott und Tom Soyer organisieren (siehe Seite 22), wollen wir Sie ermuntern, das Gespräch mit Schülern zu suchen und ihnen unseren Job zu erklären. Gerade in der unbürokratisch, einfach und individuell zu bewerkstelligenden Initiative liegt der Charme dieses Projekts. Unser Vorschlag: Sie suchen sich selbst eine Schule in Ihrer Nähe – am besten die (eigenen) Kinder in Ihrem Umfeld fragen und den entsprechenden Schulleiter/Klassenlehrer anschreiben/anrufen. Die Zeit für das Werkstattgespräch: ca. 90 Minuten (1 Doppelstunde) für das Schüler-Gespräch plus minimale Vorbereitungszeit von ca. 30 Minuten. Sie reden schließlich über Ihren eigenen Beruf.
Und wir liefern Ihnen in Zusammenarbeit mit der SZ eine Reihe an Vorbereitungsmaterialien zu typischen Schülerfragen. Die Erfahrung der SZler und aller, die in der einen oder anderen Weise etwas Ähnliches gemacht haben: Die Schulen sind dankbar für solche Angebote, Sie rennen offene Türen ein (etwas Gegenteiliges sei noch nie vorgekommen!).
Journalistinnen und Journalisten des Jahres wie Stephan Lamby, Annette Ramelsberger, Hajo Seppelt, Katja Bauer, Christian Fuchs gehen mit gutem Beispiel voran. Wir haben sie gebeten, uns für diese Ausgabe typische Schülerfragen zu beantworten (Seite 28). Der Anfang ist gemacht. Stephan Lamby wird bereits im März eine Hamburger Schule besuchen. Weitere werden folgen. Und wir werden weiter darüber berichten. Machen Sie mit? Schreiben Sie mir, wenn Sie Ähnliches in Ihrem Umfeld machen oder planen: annette.milz @ mediummagazin.de
Journalisten-Werkstatt „Ideen-Sprint“ Für Abonnenten ist die 16-seitige Werkstatt von Astrid Csuraji und Jakob Vicari kostenfrei in dieser Ausgabe enthalten. Nachbestellungen (6,99 Euro zzgl. Versand) bitte über vertrieb @ mediummagazin.de oder direkt im Shop.
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