Wer mit dem Rücken zur Wand steht, dem bleibt neben der Resignation nur die Flucht nach vorn. Und vorne liegt für Fernseh- und Radiosender nur noch die digitale Welt. Das haben bereits das ZDF, jetzt auch die ARD, aber allen voran schon längst die BBC erkannt. Denn während hierzulande noch darüber gestritten wird, wo der Expansionsdrang des öffentlich-rechtlichen Rundfunks ein Ende haben soll, hat der gebührenfinanzierte britische Apparat längst das Feld belagert: Mit monatlich gut drei Milliarden einzelnen aufgerufenen Seiten, sogenannten Page Impressions, betreibt die BBC nach den Suchmaschinen Google, Yahoo und MSN sowie dem Auktionshandel eBay die am häufigsten geklickte britische Website – und liegt damit sogar noch knapp vor der Videoseite YouTube. Weil der größte Teil dieses Angebots Nachrichten sind, ist die British Broadcasting Company außerdem unangefochtener britischer Marktführer in Sachen Online-Nachrichten.
„The channel is dead“. Mit diesem Erfolg im Rücken pflegt Tim Weber zu fragen: „Warum ist denn hier, Spiegel Online‘ und nicht die, Tagesschau‘ an der Spitze?“ Der gebürtige Pfälzer hat erst für den bereits vor sieben Jahren eingestellten deutschen Dienst der BBC gearbeitet und kurz vor Ende der Hörfunkwelle den Absprung in die mit gerade einmal einem Dutzend Mitarbeitern frisch gegründete Londoner Internetredaktion der, BBC News‘ geschafft. Weber tingelt derzeit zwischen London und den ARD-Metropolen wie Bremen und Saarbrücken, um den vielen Gremien die Online-Strategie seines Hauses zu erklären. Zuletzt war er zu Gast bei der Gremienvorsitzendenkonferenz, Anfang September wird er mit den Chefredakteuren der neun Landesrundfunkanstalten diskutieren.
Angesichts diverser Probleme, mit denen sich die BBC derzeit herumschlagen muss, wird man dort aber wohl nicht mehr so ehrfürchtig zu dem Mitarbeiter der auch „alte Tante“ genannten Institution hinaufschauen, wie das bisher der Fall war. Denn die BBC hat sich zuletzt gehörig verzettelt. So wurden in den vergangenen Monaten etliche Skandale bekannt: Unlautere Methoden bei Call-In-Sendungen führten dazu, dass vorläufig alle Telefon-Gewinnspiele ausgesetzt wurden. Außerdem hat die BBC bei einer aufwendigen Dokumentation über das Leben der Königin Bilder in der zeitlichen Reihenfolge vertauscht – und damit derzeit einen erheblichen Imageschaden erlitten.
Ungeachtet dessen bleibt Weber ein gefragter Mann. Und so wird er neben der provokanten Frage nach der Vorreiterschaft auch weiter seine ebenfalls überspitzte Parole „The channel is dead!“ herausposaunen. Will heißen: Ein festes, von den Sendern vorgegebenes Programm hat keine Zukunft. Der Zuschauer sucht sich in der digitalen Welt nämlich lieber selbst zusammen, was er wann sehen oder hören will. Dafür hat das ZDF im Netz seine sogenannte Mediathek gestartet, die seit Jahresbeginn mit großem Aufwand ausgebaut wird und Ende August bereits das vollständige Informationsangebot aus dem Fernsehen für mindestens sieben Tage nach der Ausstrahlung auf Abruf bereithalten soll. Dann will die ARD wenigstens auch ihr Pendant präsentieren, das anschließend erst einmal von den Landesrundfunkanstalten mit Inhalten gefüllt werden muss. Hier hemmt der Föderalismus allerdings ungemein, denn die Landessender entscheiden auch in Sachen Internet weitestgehend autonom, was wie schnell passiert.
Festplattenprogramm. Wer jetzt glaubt, hierzulande seien die Sender mit ihren Plänen fortschrittlich, hat sich allerdings noch nicht in Großbritannien umgeschaut: Nachdem seit Jahren ganze Sendungen und einzelne Beiträge „on Demand“ angeboten werden, hat die BBC Ende Juli ihren iPlayer gestartet. Dieses Programm ermöglicht es den Briten in äußerst komfortabler Weise, nahezu alle Sendungen sieben Tage lang auf die Festplatte zu laden und dann binnen 30 Tagen anzuschauen – „zeitsouverän“, wie das so schön heißt. Anschließend wird der Clip aus rechtlichen Gründen wieder gesperrt. Eine internationale und werbefinanzierte Version soll wie auch eine äquivalente Plattform für videofähige Mobiltelefone in wenigen Monaten folgen. Weber ist überzeugt, dass nur ein reichhaltiges Angebot in den digitalen Medien sein Haus vor dem Untergang retten kann. „Das lineare Angebot ist entweder zum Scheitern verurteilt oder wird sich so reduzieren, dass es keine Grundlage mehr gibt, dafür Gebühren zu verlangen“, mahnt er – auch mit dem Blick nach Deutschland. Denn so wie die Hauptnachrichten der BBC um 10 Uhr am Abend im Fernsehen immer weniger Zuspruch erfahren, laufen auch der „Tagesschau“ vor allem unter den Jüngeren die Zuschauer weg – langsam, aber sicher.
„Umbau statt Aufbau“. Die Intendanten haben am 18. Juni in Saarbrücken ihr jetzt heftig umstrittenes Strategiepapier „Die ARD in der digitalen Medienwelt“ verabschiedet. Darin ist stets von „Umbau statt Aufbau“ die Rede. Nach dieser Methode geht seit Jahren auch die BBC vor. Weil die Rundfunkgebühren zuletzt deutlich unter der Inflationsrate stiegen, muss sie sogar mit immer weniger Geld auskommen. Damit der Wechsel vom analogen zum digitalen Medienproduzenten dennoch gelingt, setzt das Haus auf den Slogan „One BBC“. In der praktischen Arbeit verschwimmen deshalb die Sender- und Redaktionsgrenzen.
Tim Weber, derzeit Chef der Wirtschaftsredaktion von BBC News Interactive, teilt sich dafür etwa bereits seit 2001 einen thematischen Newsroom mit den Wirtschaftsredaktionen von Fernsehen und Radio. Und nicht nur das: Weil inzwischen jeder alle Medien bedienen und beliefern soll, hat Weber als Training jüngst etwa für einige Tage den Vorsitz des TV-Teams innegehabt. Dabei hat er einzelne Kollegen auf Themen angesetzt, die an einem Tag Produkte für alle drei Säulen ablieferten.
Auch der „User Generated Content“ wird bei der BBC intensiv generiert und gepflegt: 14 Journalisten am sogenannten „UGC-Hub“ in der Online-Redaktion kümmern sich ausschließlich um durchschnittlich rund 10.000 Mails pro Tag plus Nutzerkommentare, eingesante Fotos und Videos.
Die Multimedia-Synergien funktionieren übrigens so gut, dass die BBC demnächst zum zweiten Mal hintereinander den Abbau von mehreren hundert Stellen allein im Nachrichtengeschäft bekannt geben wird. Und glaubt man der Digitalstrategie der ARD, könnte auch bei ihr bald Ähnliches folgen. Dort heißt es unter anderem: „Auch in den Redaktionen der Landesrundfunkanstalten werden sich Abläufe verändern, um die programmlichen Erwartungen des Publikums an ein zeitgemäßes Medienunternehmen zu erfüllen.“
Weniger Marken. „In der Online-Welt geht es nicht mehr um Programme, sondern um Inhalte“, sagt Weber. Speziell der föderal organisierten und deshalb gerne entscheidungslahmen ARD rät er deshalb: „Wenn die bestehen will, muss sie auf wenige Marken setzen und sich überlegen, welche Marken stärker sind als andere.“ Anders gesagt: Gerade die Dritten Programme haben es im Digitalen schwer, weil sie noch in den Grenzen der Bundesländer denken, die es im Netz eben nicht mehr gibt. „Auf den Seiten der Landessender müssen sich die Leute heute die Informationen mühsam zusammensuchen – das will aber keiner“, warnt Weber seiner Kollegen.
Folglich sollte es im Netz einen großen Auftritt geben, der alle Informationen bereithält, statt neun verschiedene Landesportale. Eigentlich undenkbar bei der jetzigen Organisation der ARD. Die druckfrische Digital-Strategie sieht dafür aber zumindest auch zentrale Zugänge zu den Audio- und Videoinhalten im Netz vor, die an den großen Marken aufgehängt werden sollen. So sollen Informationsformate im Portal der „Tagesschau“ verankert werden. Man will sich eben trotz starkem Gegenwind für die Zukunft rüsten – auch wenn es schwer fällt. Nicht unmöglich sei das, sagt Weber. „Eitelkeiten gibt es ja auch bei uns. Nur sind sie in der ARD eben potenziert.“
Erschienen in Ausgabe 8/2007 in der Rubrik „Medien“ auf Seite 24 bis 25 Autor/en: Daniel Bouhs. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberre
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