* Am 15. November 2006 begann der Siemens-Skandal. Wie ging es bei Ihnen in der Redaktion los?
Klaus Ott: Die Staatsanwaltschaft hat an diesem Tag eine Großrazzia bei Siemens vorgenommen. Ich habe meine Kontakte genutzt, die sich bei früheren Berichten über Wirtschaftskrimis ergeben haben, mich gleich ans Telefon gesetzt und versucht, die Hintergründe dieser Razzia herauszufinden. Innerhalb einiger Stunden war klar, dass die Reichweite viel größer ist, als das in den Pressemitteilungen von Staatsanwaltschaft und Siemens zum Ausdruck kam. Markus Balser und ich haben sofort unseren ersten Bericht aktualisiert und in die Spätausgabe der Zeitung gehoben: „Heimliches Finanzsystem bei Siemens entdeckt“. Damit war der Kern der Sache schon am ersten Tag klar.
* Warum Sie beide?
* Markus Balser ist in der Wirtschaftsredaktion für die Informationstechnologie und für Siemens zuständig. Ich bin als Rechercheur angestellt und springe immer ein, wenn knifflige Themen zu recherchieren sind und ich dazu etwas beisteuern kann. Er hat seine Kontakte bei Siemens und in der Branche beigesteuert, ich habe meine Kontakte eingebracht, und so haben wir uns den Ball hin- und hergespielt und die Sache vorangetrieben.
* Den geheimnisvollen Informanten gab es nicht?
* Nein, um mit so einer Geschichte weiterzukommen, braucht man zumindest am Anfang lang gepflegte Kontakte, die auf einem gegenseitigen Vertrauen basieren. Es gab niemanden bei Siemens, der ein Interesse daran gehabt hätte, uns die ganze Geschichte zu erzählen. Und selbst die Ermittler haben am Anfang wohl nicht geahnt, welche Dimension dieser Fall annimmt.
* Hat die Geschichte denn im Laufe der Zeit ihre eigene Dynamik entwickelt, sodass Leute sich bei Ihnen meldeten, die noch mehr Informationen hatten?
* Es war die absolute Ausnahme, dass jemand angerufen hat und wirklich ernst zu nehmende Informationen hatte. Wir mussten nach fast allem selbst graben. Den verschiedenen Spuren hinter gehen, immer neue Kontakte auftun. Das war mit vielen Terminen und Telefonaten auch abends verbunden, weil man bestimmte Leute natürlich nicht in ihren Büros anrufen kann.
* Welche Rolle spielte es, dass die „Süddeutsche“ wie Siemens in München ist?
* Das war wichtig, weil viele Akteure in München zu Hause sind. Aber wir haben nicht nur hier recherchiert: Wir haben natürlich von Anfang an alte und neue Kontakte in ganz Deutschland genutzt, sind zu den Leuten hingefahren und haben auch im Ausland recherchiert. Nur so konnten wir allen Spuren nachgehen, die sich auftaten.
* Anfangs waren Sie zu zweit, später sogar zu viert an der Geschichte dran – wie haben Sie die Arbeit im Team organisiert?
* Wir haben uns an den entscheidenden Tagen morgens mit dem Wirtschaftsressort und dem Newsdesk zusammengesetzt, haben überlegt, welche Stücke wir planen, wer welchen Anteil übernimmt, das lief reibungslos. Wichtige neue Informationen wurden den Kollegen immer sofort mitgeteilt, und manchmal haben wir uns im Laufe des Tages auch noch einmal kurz zusammengesetzt, um zu besprechen, wer welchen Schritt als Nächstes angeht.
* Sie standen ja oft unter großem Zeitdruck.
* Ja. Oft kamen entscheidende Informationen mittags auf den Tisch, und natürlich wollten wir dann für die Ausgabe vom nächsten Tag noch etwas daraus machen, um der Konkurrenz nicht hinterherzuhinken. Dann wurde die Arbeit aufgeteilt, sodass wir bis zum Andruck um 17 Uhr alles Notwendige beisammen hatten, alle Stücke geschrieben waren. Wenn es besonders viel zu tun gab, kamen weitere Kollegen dazu, wie Hans Leyendecker oder Uwe Ritzer, der die Affäre um die Pseudo-Gewerkschaft AUB von Nürnberg aus recherchiert hat. Diese Recherche ging nur im Team, einer allein oder auch zwei Leute wären damit heillos überfordert gewesen.
* Es gab keinen großen Rechercheplan über Wochen hinweg, die nächsten Schritte wurden jeden Tag neu entschieden?
* Genau. Wir mussten immer sehr schnell auf die neuesten Entwicklungen reagieren. Aber natürlich muss man zwischendurch auch überlegen, was in den folgenden Tagen und Wochen alles ansteht, um systematisch vorzugehen. Man braucht eine Art Gerüst, innerhalb dessen man schnell und flexibel sein muss.
* Haben Sie die Artikel vor dem Druck der Rechtsabteilung vorgelegt?
* Ja, sicherheitshalber bei den brenzligsten Geschichten. Aber es gab keinen Fall, bei dem die Kollegen gesagt haben, so kann man das nicht machen. Es gab auch, bis auf einen Leitartikel, keine Gegendarstellung oder Unterlassungs-oder Widerrufsklagen von Siemens oder den betroffenen Managern. Bei den Berichten, Dokumentationen und Reportagen konnte uns niemand Fehler nachweisen – weil eben keine passiert sind.
* Es gab angeblich Versuche von Siemens, als Anzeigenkunde Druck auf die Zeitung auszuüben. Haben Sie das mitbekommen?
* Nein. Falls so etwas passiert ist, lief das auf der Ebene der Chefredaktion. Es ist auch wichtig, dass so etwas in der täglichen Arbeit keine Rolle spielt und von den Rechercheuren ferngehalten wird.
* Weil unbewusst die Schere in den Kopf kommt?
* Ja, zum einen das. Aber solche Drohungen lassen einen ja auch nicht kalt, selbst wenn man sich vornimmt, nach bestem Wissen und Gewissen zu arbeiten. Es könnte eine Haltung entstehen, mit der man dann über das Ziel hinausschießt: Jetzt zeige ich es denen. Mir ist es ganz wichtig, dass ich Siemens gegenüber unvoreingenommen an die Recherche gehen kann.
* War Ihnen die Dimension bewusst, die diese Geschichte bekommen hat?
* Nach und nach natürlich schon, aber am Anfang überhaupt nicht. Ich hatte in den ersten Wochen geglaubt, bis Weihnachten werden wohl die wichtigsten Geschichten geschrieben sein. Dass bei Siemens dann knapp ein halbes Jahr nach Beginn des Skandals binnen einer Woche Aufsichtsratschef Pierer und Vorstandschef Kleinfeld gehen würden, beziehungsweise ihr Ausscheiden erklären würden, konnte niemand ahnen.
* Haben Sie denn abends gefeiert, wenn Sie etwas besonders Wichtiges herausgefunden haben?
* Nein, das hätte ich auch als makaber empfunden. Wir haben uns manchmal abends noch besprochen und ein Schulterklopfen von der Ressortleitung oder von der Chefredaktion bekommen. Es mag ja Journalisten geben, die sich bei jedem Rücktritt eines Politikers oder Managers eine Kerbe in den Schreibtisch hauen. Aber das ist nicht unsere Haltung, wir versuchen immer, uns unserer Rolle bewusst zu sein und auf dem Teppich zu bleiben: Wir sind keine Akteure, sondern Berichterstatter.
* So etwas wie den „Scoop der Woche“ gibt es bei der „Süddeutschen“ nicht?
* Nein, das gibt es bei uns nicht und das braucht es auch nicht. Nebenbei: Es gibt noch andere, wichtigere Dinge im Leben. Nach der Arbeit geht es nicht mehr um Siemens.
Interview: Eva-Maria Schnurr
Erschienen in Ausgabe 7/2007 in der Rubrik „Best of Henri-Nannen-Preis 2007“ auf Seite 52 bis 52. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.