Langfristig wird es für große Medien gefährlich“, glaubt Aaron Swartz. „Ihr Modell basiert darauf, dass hoch bezahlte Redakteure jeden Tag die Nachrichtenlage beurteilen und daraus ein Produkt erstellen. Im Internet gibt es dafür jedoch keinen Bedarf mehr.“
Swartz ist nicht der erste Netz-Enthusiast, der dem traditionellen Medienbetrieb den Untergang prophezeit. Doch im Gegensatz zu vielen anderen wird Swartz ernst genommen. Das US-Verlagshaus „Condé Nast“ gab Ende Oktober 2006 einen ungenannten Millionenbetrag für die von ihm mitbegründete News-Webseite „Reddit.com“ aus.
Nachrichten per Abstimmung. „Reddit“ ist ein kollaborativer Nachrichtenfilter. Einzelne Nutzer des Angebots schlagen Links zu aktuellen Nachrichten und Blog-Einträgen vor. Anschließend stimmt die gesamte Nutzerschaft über diese Vorschläge ab. Was gefällt, bekommt eine positive Stimme. Uninteressantes wird gnadenlos abgewählt. Die Einträge mit der meisten Zustimmung schaffen es schließlich auf die Reddit-Startseite. Nach ein paar Stunden werden sie dort von neuen populären Nachrichten verdrängt. An einem durchschnittlichen Wochentag finden sich auf „Reddit.com“ Links zu aktuellen Nachrichten, spektakulären Naturfotos, Tratsch und Verbraucher-Tipps.
News, Unterhaltung, Ratgeber: diese Mischung mag Machern und Konsumenten klassischer Medien bekannt vorkommen. Was überrascht, ist die Dynamik des Angebots. Wichtige Nachrichtenmeldungen schaffen es meist innerhalb weniger Minuten auf die Titelseite. „Reddits“-Leser verlinken zudem einen bunten Mix aus Weblogs und klassischen Medien, wissenschaftlichen Quellen und Online-Klatsch-Spalten. Populäre Einträge ziehen nicht selten Dutzende von Kommentaren nach sich.
Registrierte Nutzer vernetzen sich oftmals untereinander, um zu verfolgen, welche Artikel ihre Freunde als lesenswert empfehlen. „Kollaborative Webseiten kombinieren die Bewertungen aller Netzteilnehmer“, so Swartz. „Damit können sie jedem Nutzer ein maßgeschneidertes Angebot liefern.“ „Reddit“ zieht mit diesem Rezept mittlerweile eigenen Angaben zufolge 1,2 Millionen Besucher pro Tag an.
Täglich 1.000 Artikel. „Reddit“ steht mit diesem Erfolg nicht allein da. Immer mehr Webseiten setzen auf die Mitwirkung von Nutzern, um Links zu aktuellen Nachrichtenmeldungen zu sammeln und zu bewerten. Die bekannteste dieser sogenannten sozialen News-Webseiten ist „Digg.com“. „Digg“ startete im Dezember 2004 als kollaborativer Filter für englischsprachige Technologie-Nachrichten. Mittlerweile widmet sich „Digg“ auch Sport, Politik und Entertainment. Eigenen Angaben zufolge besitzt „Digg“ heute eine Million registrierte Nutzer, die insgesamt weit mehr als eine Million Beiträge zur Bewertung eingereicht haben. Täglich kommen mehr als 1000 neue Links hinzu.
All diese Beiträge werden wie bei „Reddit“ fleißig von Nutzern bewertet und kommentiert. Auf Redakteure verzichtet man auch bei Digg ganz bewusst. „Es würde der demokratischen Natur der Webseite widersprechen, wenn Redakteure Artikel selektieren oder verändern könnten“, glaubt „Digg“-Gründer Kevin Rose. Stattdessen wolle man seinen Nutzern die volle Kontrolle über die auf Digg veröffentlichten Inhalte geben. „Wir glauben an die kollektive Intelligenz des Webs“, so Rose.
Feind oder Freund? „Diggs“ kometenhafter Aufstieg hat einige Blogger dazu verleitet, die Webseite als Konkurrenten für etablierte Medien-Instanzen wie die „New York Times“ zu bezeichnen. Umgekehrt mutmaßten Journalisten mehrfach, dass „Digg“ & Co. zu einem Verfall der Berichterstattung führen könnte. Viele Medienvertreter begegnen Plattformen wie „Digg“ zudem mit den gleichen Vorbehalten, die sie auch gegenüber Nachrichten-Portalen wie „Google News“ hegen. Wer Schlagzeilen verbreitet, ohne selbst zu recherchieren, gilt in der Branche als Dieb.
Viele Web-Anbieter haben jedoch die Erfahrung gemacht, dass Digg ein äußerst großzügiger Langfinger ist. Auf der Titelseite verlinkte Artikel bringen Nachrichten-Angeboten nicht selten Tausende von Lesern. Die „New York Times“ begann deshalb im Dezember eine Kooperation mit dem angeblichen Konkurrenten. Besucher der „New York Times“-Website finden seitdem neben jedem Artikel einen Link zu „Digg.com“. Die Zeitung hofft, damit die Zahl der populären „Times“-Artikel bei „Digg“ zu erhöhen.
Deutsche Lösungen. Einige US-Medienmacher denken bereits laut darüber nach, „Digg“-Funktionalitäten in ihre eigenen Webseiten zu integrieren. Leser könnten damit beispielsweise die Titelseite eines Online-Nachrichtenangebots beeinflussen. Aaron Swartz hält dies für den falschen Ansatz. „Es bringt sehr viel mehr, Artikel verschiedener Webseiten zu bewerten als nur die Artikel des eigenen Angebots“, findet er. „So etwas wäre, als wenn die Bestsellerliste der „New York Times“ nur Bücher erwähnen würde, die von der „New York Times“ verlegt wurden.“
Udo Raaf vom deutschen Web-Katalog „Netselektor.de“ glaubt denn auch, dass sich Web-Anbieter von der Idee verabschieden müssen, die einzige Nachrichtenquelle eines Lesers zu sein. „Man blättert eine Internet-Seite nicht von vorne bis hinten durch“, meint Raaf. Wer im Netz Erfolg haben wolle, müsse deshalb lernen, von den Links anderer Angebote zu profitieren.
„Netselektor.de“ setzt dazu auf eine Kombination kollaborativer Empfehlungen und einer klassischen Redaktion, die täglich ausgewählte Web-Tipps gibt. Raaf will damit die Einstiegsschwelle für derartige Plattformen senken. „Wir glauben, dass die meisten Nutzer angesichts der schieren Masse von Links schlichtweg überfordert sind.“
Mittlerweile gibt es auch hierzulande erste Annäherungen zwischen traditionellen Medien und den neuen News-Plattformen. Anfang Februar gab „Holtzbrinck Ventures“ eine Investition in die deutsche „Digg“-Kopie „Webnews.de“ bekannt. Seitdem finden sich auf verlagseigenen Webseiten unter jedem Artikel Links zu dem Angebot. „Webnews“-Gründer Stefan Vosskötter warnt jedoch vor zu hohen Erwartungen: „Social News hängen stark mit der Bloggerszene zusammen. Diese ist in den USA schon viel weiter verbreitet.“
Erschienen in Ausgabe 4/2007 in der Rubrik „Medien“ auf Seite 42 bis 43 Autor/en: Janko Röttgers. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.