Neue Welle für die iPod-Generation

Musikredakteure beim Radio hatten es viele Jahre leicht: Sie nahmen 200 Titel, die von Marktforschern gut getestet wurden. Der Computer spuckte dann das Musikprogramm aus. Jeden Tag die immer gleichen 200 Titel – nur in anderer Abfolge. Musik, die nicht weiter polarisierte. Der kleinste gemeinsame Nenner, manche nennen es auch Mittelmaß. Die Bedrohung für dieses Szenario wiegt nur ein paar Gramm: Der MP3-Player – er macht jeden zum Musikchef. Je nach Speicherkapazität gibt’s ein Repertoire von mehreren tausend Titeln – mehr als in jedem Radioprogramm – und statt Mittelmaß die Lieblingsmusik.

Zeit zum Umdenken für die Radiomacher – in erster Linie bei den jungen Programmen, denn die sind besonders gefährdet. Hörten vor sechs Jahren noch 84% mehrmals pro Woche Radio, waren es 2006 nur noch 71%-Tendenz sinkend. Das kam bei der jüngsten JIM-Studie des Medienpädagogischen Forschungsverbundes Südwest/mpfs (siehe Linktipp) heraus, die sich mit der Mediennutzung von Teenagern beschäftigt. Die Befürchtung der Radioleute: Wer in jungen Jahren kein Radio hört, wird es auch als Erwachsener nicht tun. Angesichts dieser Gefahr hat der MDR Anfang Dezember 2006 sein Jugendprogramm „Sputnik“ umgestellt. Zuletzt von Kritikern als wortarmes Dudelprogramm geschmäht, soll nun alles anders werden. „Man muss einfach mehr Überraschendes, Ungewöhnliches bieten, auch wenn das nicht jedem gefällt und man nicht mehr die Massen erreichen kann“, sagt Eric Markuse, vom Pressesprecher zum Programmchef des MDR aufgestiegener Neu-Radio-macher. Damit meint er auf der einen Seite das Musikprogramm. So bekommen neuerdings Bands aus dem Sendegebiet eine Chance, ihre Musik vorzustellen. Und es gibt mehr Zeit für das Wort. „Das ist ein wichtiges Alleinstellungsmerkmal“, ist sich Markuse sicher. Vom österreichischen Jugendprogramm FM4 hat er sich die englischen Nachrichten abgeguckt, die es um 13 und 18 Uhr gibt – vor einer einstündigen Infosendung mit Beiträgen und Interviews, die auch gern mal drei Minuten lang sein dürfen. Dabei greift MDR Sputnik auch auf das Korrespondentennetz der ARD zurück – mit einem Haken: „Es gibt hervorragende Korrespondenten, die leider zu unlocker für ein junges Programm klingen“, bedauert Markuse.

Das kritisiert auch Inge Seibel-Müller, früher Programmchefin beim Privatradio und heute als freie Journalistin für die Website „hoerfunker.de“ der „Bundeszentrale für politische Bildung“ (bpb) verantwortlich. Zu wenig zielgruppenaffin findet sie die Korrespondentenbeiträge aus dem ARD-Pool: oft „altbacken, emotionslos und schriftsprachlich“. Aber einige Moderatoren klingen ihrer Meinung nach „immer noch viel zu sehr nach ,Gute-Laune-Moderatoren‘ – gekünstelt und etwas unnatürlich“. Dafür lobt sie das „Update“, das Informationsmagazin zwei Mal am Tag („allerdings sollte man nicht so tun, als wären aufgezeichnete Interviews live“), und die Nachrichten („nicht sehr ausführlich, aber locker präsentiert – im Stil des restlichen Programms“).

Ausgebaut werden soll beim MDR künftig das Angebot an Podcasts. Den MP3-Player sieht der Programmchef nämlich als neuen Vertriebsweg und nicht als Feind des Radios. Für den MDR ist „Sputnik“ ein Experimentierlabor. Eine Quotenvorgabe gibt es zunächst nicht. „Man kann kein junges Qualitäts-Programm machen, wenn man nur die Quote im Kopf hat“, sagt Markuse. Und weil ein Qualitätsprogramm Geld kostet, wurde der bisherige Etat von knapp drei Millionen Euro um etwa die Hälfte aufgestockt.

Quotendruck. Senden, ohne auf die Quote zu achten, ist ein Luxus, der für private Jugendprogramme unvorstellbar ist, wie etwa für „planet radio“ in Hessen. Was die Zukunft angeht, herrscht bei Programmchef Roel Oosthout Zweckoptimismus: „Die jungen Leute brauchen Radio, um ihren MP3-Player zu bestücken.“ Als Konsequenz wird bei „planet radio“ viel mehr neue Musik gespielt und nicht nur auf etablierte Künstler gesetzt. Den Rückgang der Quote werde aber auch das nicht verhindern können. „Ein Teil der Radionutzung wird todsicher verloren gehen“, bedauert der Holländer mit Arbeitsplatz in Hessen. Für die Zukunft plant er weitere digitale Musikkanäle im Internet als Ableger von „planet radio“, um auch speziellere Musik anbieten zu können.

Aufs Internet setzt auch Kristian Kropp, Geschäftsführer von „bigFM“, dem jungen Programm für Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und das Saarland. „Radio und Online sind das perfekte Geschwisterpaar“, sagt er. Wer im Internet surfe, könne parallel Radio hören. Spannend werde es dann, wenn mobiles Internet flächendeckend verfügbar sei. Dann könne man mit entsprechenden Geräten aus tausenden Programmen im Netz auswählen. Auch deswegen ist sich Kropp sicher: „Radio wird’s in hundert Jahren noch geben“.

In Nordrhein-Westfalen ist „Eins Live“ vom WDR das einzige Programm für die Jungen. Zuletzt haben die Kölner erheblich Hörer verloren – in der Altersgruppe der 14-bis 29-jährigen verabschiedete sich innerhalb weniger Monate jeder Neunte. „Es ist natürlich nicht so einfach, dagegen ein lockeres Rezept aus der Tasche zu ziehen“, sagt Programmchef Jochen Rausch. Ein neues Programm seit Jahresbeginn soll jetzt den Umschwung bringen. So soll es nun ernsthafter zugehen. „Wir haben bisher immer überlegt, wie können wir denn alles so halbwegs lustig machen, und darüber unsere journalistische Seite etwas vernachlässigt“, gibt Rauch zu. Wenn beispielsweise der Papst die Türkei besuche, sei das kein Thema für eine Comedy, sondern eher für ein Gespräch mit dem Korrespondenten. Von gebauten Beiträgen hingegen hat man sich bei „Eins Live“ schon vor Jahren verabschiedet. Programmchef Rausch findet Kollegen-Gespräche „authentischer und direkter“.

Die größte Innovation findet beim WDR derzeit im Internet statt. Unter dem Titel „Eins Live Kunst“ wird jeden Tag ein vierstündiges Programm produziert mit Beiträgen der WDR-Kulturwellen, aber mit Musik für eine junge Zielgruppe und mit jungen Moderatoren. Für alle, die Jazz oder Klassik auf WDR 3 und WDR 5 nicht mögen. Fünf Mal wird der Livestream wiederholt, sodass 24 Stunden gesendet wird. Knapp 10.000 nutzen das neue Angebot pro Tag. „Noch ausbaufähig“, glaubt Jochen Rausch. Als Podcast hingegen gibt es das Kulturprogramm nicht. Wegen der fehlenden Musikrechte kann der Sender „Eins Live Kunst“ noch nicht zum Herunterladen anbieten.

Auch die Energy-Programme in den Metropolen wie Hamburg, Berlin oder München setzen auf Gesprochenes, wenn auch nicht auf Hochkultur. „911“ heißt die Talkshow im Abendprogramm – wer will, kann sich per Telefon, SMS oder Chat beteiligen. „Wenn unsere Hörer selbst die Möglichkeit haben zu sprechen, wenn sie das Programm mitbestimmen, dann werden sie nicht zappen, sondern hängen bleiben und das länger, als wenn sie einfach nur Musik hören“, ist sich Mathieu Sibille sicher. Er ist Europachef des französischen NRJ-Konzerns, der an den Energy-Stationen beteiligt ist. Auch er hält Radio für die erste Wahl, wenn es darum geht, neue Musik zu entdecken. Daher gibt es neuerdings am Abend „Energy brandneu“. Motto: „Hier bekommst du Songs, die so neu sind, dass sie noch keiner aus dem Internet gesaugt hat.“

Entwicklungsland in Sachen junge Radioprogramme ist Bayern. Aber im Sommer soll sich das ändern, dann geht der BR mit einem Jugendprogramm an den Start, als Letzte der Landesrundfunkanstalten. Über UKW soll es das neue Programm allerdings nicht zu hören geben (sonst hätte man die Klassikwelle opfern müssen), sondern nur über Mittelwelle oder als Livestream im Internet. Aber auch wer zu den wenigen Besitzern eines DAB-Empfängers gehört, soll die Jugendwelle empfangen können. „Wir richten uns vor allem an Menschen unter 30, die offen und neugierig sind, die Interesse an Musik auch abseits des Mainstreams haben und die mitreden wollen bei relevanten Themen“, verspricht Rainer Tief, zuständig beim BR für „Bayern 3“, Jugend und Multimedia. Er will auf der Website des noch namenlosen Programms Video-und Audio-Blogs anbieten. Insgesamt vier Millionen Euro stehen für das Programm 2007 z
ur Verfügung. Im Gegensatz zum älteren Bruder „Bayern 3“ soll es auch längere Wortstrecken geben. Bei allen Unterschieden wird es aber doch eine Gemeinsamkeit geben: „On air haben wir schon gern die süddeutsche Färbung, und dabei bleibt es auch“, betont Rainer Tief.

Die Radiomacher haben erkannt: Es ist fünf vor zwölf. Nun wird versucht zu retten, was noch zu retten ist. Effektvoller könnte hingegen eine ganz andere Maßnahme sein: Wie wäre es denn, wenn Apple seine iPods so ausrüsten würde, dass sie auf Wunsch zum iRadio werden?

Lesetipp:

Walther von LaRoche, Axel Buchholz (Hrsg.), Radio-Journalismus, Econ Verlag, Berlin 2004, 479 S., 23,50 Euro

Linktipp:

MDR Sputnik: www.sputnik.de

planet radio: www.planetradio.de

big FM: www.big-fm.de

Eins Live: www.einslive.de

Energy: www.energy.de

Die JIM-Studie des mpfs zum Download im Netz: http:// www.mpfs.de/fileadmin/JIM-pdf06/JIM-Studie_2006.pdf

Erschienen in Ausgabe 1/2007 in der Rubrik „Medien“ auf Seite 60 bis 63 Autor/en: Matthias Morr. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.