Wo ist der Mehrwert?
ARD, ZDF und Deutschlandradio müssen jetzt ihre Online-Inhalte testen lassen. Medienrechtler Dieter Dörr sieht das skeptisch.
(Langfassung des Interviews von Daniel Bouhs, s. a. MM 1+2/2009, Seite 52f)
? Angenommen, Sie laufen einem Gebührenzahler über den Weg und der fragt Sie: „Was um alles in der Welt ist denn dieser Drei-Stufen-Test, von dem in den Zeitungen immer die Rede ist?“ Was antworten Sie?
Dieter Dörr: Dass mit dem Verfahren ermittelt werden soll, ob der öffentlich-rechtliche Rundfunk wirklich neue Angebote im Internet starten soll – oder nicht. Damit soll festgestellt werden, ob dieses neue Angebot einen journalistischen Mehrwert mit sich mitbringt – oder nicht.
? Unser Gebührenzahler wird dann aber bestimmt sagen: „Das wurde doch hoffentlich auch schon bisher geprüft!?“
Das Problem ist: Die Beauftragung von ARD und ZDF war bislang nur sehr allgemein gehalten. Es gab einfach keine konkrete Bestimmung darüber, was die ARD, das ZDF und das Deutschlandradio machen dürfen. Das hat die Europäische Kommission beanstandet. Deshalb wird dieser Auftrag mit dem 12. Rundfunkänderungsstaatsvertrag genauer bestimmt und gleichzeitig das besagte Verfahren eingeführt, mit dem geprüft wird, ob die neuen Grenzen auch eingehalten werden.
? Und was verbirgt sich hinter den ominösen drei Stufen?
Dabei geht es zum einen um die genauere Bestimmung des Auftrages. In der zweiten und zugleich wichtigsten Stufe wird gefragt, ob der publizistische Mehrwert, der Mehrwert für die Gesellschaft, überhaupt rechtfertigt, dass ein solches Angebot ausgerechnet vom öffentlich-rechtlichen Rundfunk kommt. Und dann muss noch abgeklopft werden, ob entsprechende Angebote schon im Netz verfügbar sind und wie sich ein gebührenfinanziertes Angebot auf einen schon besetzten Markt auswirken würde. Andere Angebote – etwa von Verlagen und Privatsendern – könnten ja wirtschaftlich Schaden erleiden, wenn eine öffentlich-rechtliche Konkurrenz dazukommen würde.
? Die „Tagesschau“ ist also nicht in Gefahr, nur weil ProSieben und RTL auch Nachrichten senden?
Keineswegs. Durch den Drei-Stufen-Test müssen nur Online-Angebote, denn: Der öffentlich-rechtliche Rundfunk bewegt sich im Internet außerhalb seines klassischen Auftrags. Sein Hauptauftrag bleibt, Hörfunk und Fernsehen zu machen. Die EU-Kommission hat dafür gesorgt, dass ARD und ZDF andere Angebote künftig besonders rechtfertigen müssen. Deshalb der Drei-Stufen-Test.
? Also keine Panik auf den Wellen?
Nein. Im klassischen Bereich hat das Bundesverfassungsgericht auch zuletzt wiederholt klargestellt: Der öffentlich-rechtliche Rundfunk ist nach wie vor unverzichtbar. Er müsse sogar ein Angebot liefern, das – zumindest publizistisch – voll mit dem der Privaten konkurrieren kann.
? Mit Einführung des neuen Tests sollen auch die bestehenden Internetseiten von ARD und ZDF überprüft werden. Darf es dann „tagesschau.de“ nicht mehr geben, weil es schon Angebote wie „Spiegel Online“ gibt?
Auch das ist nicht der Fall. Konkret auf einzelne Sendungen bezogene Angebote dürfen nämlich auch künftig ohne Prüfung ins Netz. Aber nur für eine begrenzte Zeit: sieben Tage. Das gilt sowohl für die einzelne Internetseite als auch für den Abruf von Sendungen als Stream, also die Angebote in den Mediatheken. Angebote, die sich aber nicht konkret auf eine Sendung beziehen, müssen durch den Test – und zwar auch die bestehenden. Weil das aber eine große Menge ist, ist eine Übergangsfrist bis Ende 2010 geplant.
? Droht jetzt eigentlich eine „Löschung der Archive“ im Netz, wie ARD und ZDF behauptet haben?
Zumindest Archive mit zeit- und kulturgeschichtlichem Inhalt sind ausgenommen.
Ein dehnbarer Begriff…
…der aber in einem sogenannten Telemedienkonzept konkret erläutert werden muss.
Klingt alles furchtbar kompliziert.
Das alles ist tatsächlich nicht einfach, liegt aber zu großen Teilen nicht am deutschen Gesetzgeber. Das meiste, was da jetzt auf uns zukommt, wurde durch die Beihilfe-Einstellungsentscheidung der EU-Kommission vorgegeben.
? In den Sendern stöhnen sie, sie müssten jetzt darlegen, warum etwa ein in das Netz gestelltes Dossier vom Ende der neunziger Jahre sowohl einen publizistischen Mehrwert bietet als nicht auch den Wettbewerb verzerrt. Ein Kleinkrieg, oder?
Andererseits ist es doch auch völlig richtig, dass sich öffentlich finanzierte Anbieter darüber Gedanken machen müssen, warum sie etwas wie anbieten. Das alles ist eine große Chance für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk: Er muss sich legitimieren. Ich glaube, dass die Sender darüber – bei aller Anerkennung ihrer Leistungen – zu wenig nachgedacht haben.
Für die Sender ist die Situation doch recht komfortabel: Da kommt ein Drei-Stufen-Test, den mit den Rundfunkräten ausgerechnet ihre eigenen Gremien durchführen sollen.
Das ist die große Bewährungsprobe für die Gremien. Der Drei-Stufen-Test ist ja so einfach nicht: Sowohl die Stufen als auch die Kriterien sind vorgegeben und leiten sich aus dem EU-Recht ab. Immerhin sieht der Rundfunkstaatsvertrag vor, dass gerade zu der Frage, wie sich Internetangebote von ARD und ZDF auf die der Privaten auswirken, sachverständiger Rat von außen eingeholt werden muss.
? Die Gremien müssen also Gutachten bestellen?
Genau. Ich hätte mir hier aber eine noch weitergehende Lösung gewünscht: ein externes Expertengremium. Dann würden immer die gleichen Maßstäbe angelegt. Das gibt es bei den entsprechenden Kommissionen sowohl zur Ermittlung der Rundfunkgebühren, der KEF, als auch zur Prüfung der Medienkonzentration, der KEK, auch schon. So, wie das jetzt geplant ist, besteht schlicht die Gefahr, dass die Gutachter immer wieder unterschiedliche Kriterien anwenden. Die Gremien müssen ihre Entscheidungen aber auch begründen. Und wenn sich das Verfahren als nicht effektiv erweist, wird die Kommission das auf Dauer nicht hinnehmen.
? Das heißt?
Die EU-Kommission hat Deutschland zwar durchaus eingeräumt, das Verfahren selbständig zu gestalten. Sie hat aber auch deutlich ihre Sympathien für eine externe Kontrolle geäußert. Eine binnenplurale Kontrolle durch die Sender-Gremien wird sie auf Dauer eben nur akzeptieren, wenn sie auch wirklich funktioniert. Damit wird der Drei-Stufen-Test die Rolle der Gremien verändern. Sie werden sich professionalisieren müssen und auch einen gewissen Unterbau brauchen. Und sie werden zeigen müssen, dass sie tatsächlich eine Kontrollfunktion ausüben können. Tun sie das nicht, wird die Kommission ihnen die neue Macht ganz schnell wieder entziehen. Das ist ganz sicher.
? Es hat ja schon freiwillige Drei-Stufen-Tests gegeben, etwa zur Einführung der ARD-Mediathek. Da hat sich der zuständige Rundfunkrat des SWR auf Pressedossiers gestützt statt Experten anzuhören. Eine Farce, oder?
Das war jedenfalls kein echter Drei-Stufen-Test. Jetzt wird aber ein erster echter Test vorbereitet: für die Mediathek des Kinderkanals. Da wurden die Gutachter mit einer Ausschreibung gesucht. Dort wird sich erweisen, wie das alles in der Praxis funktioniert.
? Neben der Mediathek will der Kinderkanal auch ein Lernportal für Grundschüler starten, das ebenfalls durch den Drei-Stufen-Test muss. Da ist aber doch Super-RTL mit „Togolino.de“ längst auf dem Markt. Geht der Kinderkanal leer aus?
Wenn man sich nur die Frage ansieht, ob ein solches Angebot den Markt gefährden würde, müsste man sagen: Ja, da muss das zuständige Gremium, in diesem Fall der MDR-Rundfunkrat, ablehnen. Im Drei-Stufen-Test wird aber auch gefragt, wie wichtig der publizistische Mehrwert ist. Und in diesem Fall dürfte dem publizistischen Mehrwert ein so hohes Gewicht eingeräumt werden, dass er die negativen Auswirkungen auf den Markt auszugleichen vermag.
? Auch wenn dafür formal Gutachten bestellt werden müssen: Sind die Gremien am Ende nicht in ihrer Entscheidung völlig frei?
Völlig frei ist in einem Rechtsstaat niemand. Das unterscheidet ihn von der Willkür. Für die Gremien heißt das: Sie müssen ihre Entscheidungen und vor allem ihre Gründe darlegen – und zwar im Detail. Und das muss am Ende auch von der Rechtsaufsicht akzeptiert werden.
? Wer ist das?
Das ist von Sender zu Sender unterschiedlich. Oft sind das die Staatskanzleien der Länder, in denen sie zugelassen sind. Die Rechtsaufsicht muss zumindest prüfen, ob das Verfahren zulässig war. Erst dann werden die neuen Angebote von ARD und ZDF in den Amtsblättern verkündet und dürfen starten.
? Aber die Länder sind doch ihren Sendern genauso gewogen wie die Gremien, oder?
Das ist ein wichtiger Punkt: Die Rechtsaufsicht kann nach deutschem Recht nämlich keine tiefgehende Prüfung vornehmen. Hier unterscheiden sich die deutschen Vorstellungen erheblich von den europäischen. Das Bundesverfassungsgericht hat immer wieder betont, dass gegenüber dem Rundfunk nur eine begrenzte Rechtsaufsicht zulässig ist. Das ist auch naheliegend, weil sonst ein staatsnaher Rundfunk drohen würde. Deshalb kann die Rechtsaufsicht allenfalls offenkundige Fehler im Verfahren korrigieren. Die Entscheidung über neue Angebote liegt damit letztlich tatsächlich bei den Gremien. Das Problem: Ich weiß nicht, ob sich die Gremien in die Rolle eines unabhängigen Kontrolleurs hineinversetzen können.
? Warum diese Skepsis?
Sehen Sie sich doch allein mal an, wie das Selbstverständnis der Gremienvorsitzenden bisher ist: Sie verstehen sich als Teil ihrer Sender. In dem neuen Verfahren sollen sie aber unabhängige Kontrolle ausüben – unabhängig und unparteiisch.
? Wo können sich die Privaten beschweren, wenn sie glauben, ein Drei-Stufen-Test würde zu Unrecht neue Angebote von ARD und ZDF zulassen?
Auch das ist eine gute Frage. Das Verfahren räumt Dritten nämlich keine besondere einklagbare Position ein. Das heißt: Keiner kann vor einem Verwaltungsgericht klagen, um zu erreichen, dass die Justiz einen Drei-Stufen-Test objektiv unter die Lupe nimmt. Aber Verlage und Privatsender haben natürlich die Möglichkeit, sich wieder in Brüssel zu beschweren…
Prof. Dr. Dieter Dörr (57) lehrt an der Mainzer Universität Öffentliches -, Völker und Medienrecht. Seit 2000 ist er Leiter des Mainzer Medieninstituts sowie Mitglied der Kommission zur Ermittlung der Konzentration im Medienwesen (KEK), dessen Vorsitzender er 2004 bis 2007 war.
Hintergrund: Neue Regeln für ARD & ZDF
Im Mai 2009 soll der 12. Rundfunkänderungsstaatsvertrag in Kraft treten. Dahinter
steht die Gebrauchsanweisung für ARD, ZDF und Deutschlandradio. Um die Novelle
dieses Gesetzes wurde heftig gerungen, denn: Mit den inzwischen von den Ministerpräsidenten ausgehandelten Änderungen musste geregelt werden, was die gebührenfinanzierten Sender im Internet dürfen – und was nicht. Der Entwurf, der mit hoher Wahrscheinlichkeit von den Länderparlamenten ratifiziert wird, sieht vor: ARD, ZDF und Deutschlandradio dürfen sich grundsätzlich im Netz bewegen. Anders als bisher, wo nur die Höhe der Investitionen geregelt war, dürfen die Sender aber nur noch Angebote starten, die sich auf konkrete Sendungen beziehen. Dafür dürfen sie nur maximal sieben Tage online stehen. Archive mit zeit- und kulturgeschichtlichem Inhalt sind ausgenommen. Ausnahmen werden zudem erlaubt, dürften sogar die Regel sein. Denn auf Druck der EU-Kommission wurde der sogenannte Drei-Stufen-Test konzipiert. Er soll prüfen, ob bestehende und geplante Angebote
1) dem Auftrag von ARD und ZDF entsprechen,
2) einen publizistischen Mehrwert bieten und damit überhaupt nötig sind, und
3) Privatsender und Verleger nicht unnötig behindern. Mit diesem Testverfahren
kann die Sieben-Tage-Frist ausgehebelt werden. Zuständig für das Verfahren werden die sendereigenen Gremien sein. dan