Für mich war die Nachricht des vergangenen Jahrzehnts, dass man Spinat doch aufwärmen kann. Dass man gar nicht krank wird, nicht stirbt, wenn man den Spinat von gestern isst. Das Gegenteil war für mich über die Hälfte meines Lebens eine so felsenfeste Wahrheit, wie der Umstand, dass Ernie und Bert in der Sesamstraße wohnen. Aber, wer weiß: Vielleicht stimmt das ja auch nicht.
Das Erstaunliche war nicht mal, dass es plötzlich eine andere Wahrheit gab, sondern mit welcher Selbstverständlichkeit und Nonchalance sie verbreitet wurde. Wie ein Teil des kollektiven Bewusstseins mal so eben annulliert wurde. Es gab keine an die Spinatindustrie gerichtete Entschuldigung, keine Aufklärung, wer denn wann diese Ente überhaupt in die Welt gesetzt hat. Die eine Studie wurde einfach durch eine andere ersetzt.
O.K., Spinat ist vielleicht nicht das ganz große Thema (spätestens seit bekannt wurde, dass Spinat auch gar nicht so viel Eisen enthält, wie es Millionen von Kindern zur Mittagszeit immer gesagt bekommen haben), aber er steht stellvertretend für den medialen Umgang mit Studien, die von Journalisten meist ohne große Nachfrage wiedergegeben werden. Wahrscheinlich liegt es daran, dass sich der Journalist seines prekären Status‘ als Halbwissen-Schleuder ständig bewusst ist und deswegen Menschen, die sich länger als drei Tage mit einem Thema beschäftigen, größte Ehrfurcht entgegenbringt. Die Schlüsselworte „Institut“, „Universität“ und „Erkenntnis“ reichen oft aus, damit Redakteure vor Respekt erstarren.
Man kann sich richtig vorstellen, wie sie vor dem Agentur-Ticker sitzen, nervös die einlaufenden Meldungen durchgehen und erleichtert aufatmen, sobald eine Studie auftaucht. Schneller findet kaum eine Meldung ins Blatt, wie von selbst schreibt sich der Einstieg. Sehr beliebt ist zum Beispiel dieser: „Wie amerikanische Wissenschaftler jetzt herausgefunden haben …“
Und da sich diese Form so großer Beliebtheit erfreut, kommt hier exklusiv eine kleine Studie zu diesem Thema: Sucht man z. B. in einem elektronischen Archiv wie der Gruner+Jahr-Datenbank oder dem SZ-Archiv nach Studien, die in Medien zitiert wurden, erhält man für einen einzigen Monat über 1.000 Treffer. Darunter finden sich etwa für die letzten Wochen folgende Schlagzeilen:
* „Laut Studie geben deutsche Kinder die Hälfte ihres Taschengeldes für Süßigkeiten aus.“ („taz“)
* „Die Hälfte aller europäischen Touristen lässt die eigenen Toilettenartikel zu Hause.“ („Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“)
* „Fußballtickets sind in Deutschland zu billig.“ („Welt“)
* „Soja schadet den Spermien.“ („taz“)
* „Beten in Thailands Tempeln erhöht das Krebsrisiko.“ („Frankfurter Allgemeine Zeitung“)
* „München bleibt attraktivste Großstadt.“ (SZ)
Über die Relevanz jedes einzelnen dieser Ergebnisse lässt sich streiten – festzustellen bleibt aber, dass eine Studie den Journalisten nicht nur von der Pflicht der eigenen Recherche zu entheben scheint, sondern auch von der bloßen Nachfrage, was denn die Studie überhaupt soll. Bei Leserbriefen oder aufgebrachten Anrufern aus anderen Instituten, die gerade am Gegenteil forschen, kann der Journalist zudem immer entgegnen, dass er doch nur zitiert habe. Man könne ja gern morgen das Gegenteil berichten – falls gerade eine Studie zur Hand ist.
Am schönsten sind Studien immer dann, wenn sie die politische Ausrichtung der Zeitung bestätigen. So wie sich Politiker gewogene Wissenschaftler halten, um ihrem Wahlprogramm den offiziellen Stempel der Wissenschaft aufzudrücken, so gern suchen die Redaktionen Meldungen aus, die ihrer politischen Ausrichtung Autorität verleihen. Dann gibt es triumphierende Schlagzeilen wie etwa unlängst in der „Welt“ „dass Bio nicht besser ist“, die sich auf eine Studie von Kopenhagener Wissenschaftlern bezog. Prompt brachte die FAS wenige Tage später eine Replik, in der sie mit Hilfe des „Chemischen und Veterinäruntersuchungsamts“ (CVUA) in Stuttgart bewies, dass Bio eben doch besser ist.
Die „taz“ frohlockt standesgemäß darüber, dass laut einer Studie aus Erlangen „Konsumsucht heilbar ist“ – und die „Münchner Abendzeitung“, die als Boulevardblatt natürlich wenig übrig hat für die Sorgen verwöhnter Wohlstandskinder, schrieb unlängst, dass man auf Grund einer Studie „jetzt sämtliche Mutmaßungen beseitigen muss, dass das Benutzen von Handys zu Kopfschmerzen oder gar zu Krebs führen könnte.“ Am selben Tag schrieb die „Berliner Zeitung“ übrigens, dass es nun „klare Beweise“ gebe, dass starke Handy-Nutzer verstärkt Ausprägungen von Hirntumoren gezeigt hätten.
Ein ganz großes Thema war bundesweit und besonders in Berlin der Alkoholkonsum von Jugendlichen. Kein Tag ohne opulente Berichterstattung über die Opfer von Flatrate-Partys, von Alkopops und Wetttrinken. Und plötzlich stand in der „Berliner Zeitung“ (allerdings viel kleiner), dass der Alkoholkonsum von Jugendlichen signifikant zurückgegangen sei. Von Studien zur tatsächlichen Zahl von Kindstötungen und der Größe der „Bildzeitungs“-Schlagzeilen zu diesem Thema sei hier vornehm geschwiegen.
Diese „medium magazin“-Studie kommt übrigens eindeutig zu dem Schluss, dass die deutschen Redaktionen unbedingt mal eine Studienpause brauchen.
Erschienen in Ausgabe 9/2008 in der Rubrik „Journaille“ auf Seite 12 bis 13. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.