Am Ende gibt’s ein Schnitzel. Oder zumindest eine Plockwurst. Leser wollen schließlich belohnt werden. „Dramaturgische Intelligenz“ nennt „Spiegel“-Redakteur Cordt Schnibben diese journalistische Imbiss-Philosophie. Beim siebten Hamburger Workshop des Reporterforums erklärte er, wie die Schnitzeljäger zum Jägerschnitzel kommen (und es dann auch wirklich aufessen!). Damit es sich auch jeder merkt, verteilte Schnibben am Ende seiner Werkstatt eine schnell zusammengeschusterte Grafik (siehe links): Unten eine Wurst, oben ein Hund mit hochgesteckter Sonnenbrille, dazwischen kryptischer Krimskrams.
„Man muss sich den Leser heute als jungen Hund vorstellen“, sagt Schnibben. Und der will lieber rumspringen, Facebook-Games spielen, rumtwittern oder Youtube gucken, als still zu sitzen, um sich auf einen langen Text zu konzentrieren. Wie also dressiert man das Hündchen? Mit den ewigen Regeln der Dramaturgie: „Aufmerksamkeit erzeugen, Spannung halten, belohnen.“ Wie das geht, darüber bestand lange weitgehend Einigkeit: szenische Einstiege – edelfederhaft, langsam, manchmal verschlüsselt, meist überfrachtet.
„Reportagen? Das sind doch diese Texte, bei denen ich die ersten Absätze immer überspringe.“ Diesen Satz bekam Schnibben zu hören, als er sich bei der Krupp-Stiftung um Fördermittel für das Reporterforum bemühte. Mancher Rat ist mehr wert als Geld: „Der schlaue Hund kennt heute alle unsere Tricks“, glaubt der Reporter, „deshalb müssen wir schlauer sein als der Hund.“ Wie das geht? Das erzählen die Bildchen zwischen Hund und Wurst …
Das „Schlauersein“ nennt Schnibben „dramaturgische Intelligenz“. Weil heute das Internet, vor allem das mobile, unsere Gewohnheiten prägt, spricht der Altmeister von „alter Dramaturgie“ und „neuer Dramaturgie“. Er weiß, wovon er spricht. Seinen Kisch- und seinen Wolff-Preis gewann er in den 80er Jahren, danach hat er beim „Spiegel“ einen ganzen Haufen preisgekrönter Reportagen mitgestaltet, indem er sie umgebaut und redigiert hat.
Es dauerte drei Stunden, bis sie den Verstand verlor, und weitere zwei, bis sie endlich sterben durfte.
Mit diesen Worten beginnt Schnibbens Workshop in Hamburg. Ausgedruckt liegen sie in großen Lettern auf jedem Stuhl. Doch sind sie nicht von ihm. Gesehen hat er sie am Bahnhof, wo sie den Thriller „Tod und Regen“ von Stephan Ludwig bewerben. Einige Teilnehmer sind auf morbide Art fasziniert, doch das Urteil des Redigators ist hart: „Ein wunderbares Beispiel für alte Dramaturgie.“ Der Autor setze auf Effekte, auf niedere Instinkte. Schnibben erzählt, wie er am Bahnhof eine Mutter beobachtet hat, die Ludwigs Sätze ihrem Grundschulkind erklären musste. „So etwas ist emotional unbrauchbar“, befindet er.
Wie sieht sie also aus, die intelligente, die neue Dramaturgie? Schnibben illustriert es an Redigierbeispielen aus der Praxis:
Sie fährt sich mit der Hand kurz durch ihr schwarzes Igelhaar, nimmt ihren Rucksack, Armreifklirren, legt ihn über die schmale Schulter und schließt das Büro. Sie läuft die Treppen hinab, läuft aus dem hohen Haus, vorbei an den Stühlen und Tischen der „Locomotiva“, wo sie an schlimmen Abenden einen Wodka am Tresen trinkt und eine Zigarre raucht. (…)Sie biegt von der kleinen Straße ab auf die größere „Akadimias“ (…) Zu Hunderttausenden waren die Athener vor einem Jahr auf diesen Platz gekommen, sie demons-trierten, diskutierten, schrieen für ein besseres Leben, für eine sicherere Zukunft. (…) Einer von ihnen hat sich vor ein paar Wochen umgebracht.
Schnibben vergleicht den Einstieg mit einer Kinovorstellung, in der der Autor das Licht ausschaltet und seinen im Kinosaal gefangenen Zuschauer ganz gemächlich ins Geschehen einführt. „Alte Dramaturgie tut noch immer so, als müssten wir schreiben wie Kisch – als wären wir die Einzigen, die sich auskennen, während der Leser noch nichts gesehen hat.“ Neue Dramaturgie hingegen lebe von Überraschungen, von Regelverletzungen. Auf der Suche nach einem besseren Einstieg wird Schnibben in der Mitte desselben Textes fündig:
Am 21. April: Ein Lehrer aus Athen, 44, erhängt sich im Haus seiner Eltern, in Stavroupolis Xanthi. 23. April: Ein Dozent, 38, erhängt sich in seinem Haus in Athen. 23. April: Ein Pfarrer, 35, springt von seinem Balkon im Norden Griechenlands. 25. April: Ein Student, 23, erschießt sich. 3. Mai: Ein Familienvater, 40, erhängt sich, sein Kind findet ihn. 3. Mai: Ein Manager, 60, erhängt sich in Agrinio, 400 Kilometer westlich von Athen. 23. Mai: Ein Familienvater, 60, schneidet sich die Pulsadern auf, im Tsalavouta Park, Athen. 25. Mai: Eine Rentnerin, 90, springt von einer Dachterrasse am Vathi Platz, Athen. 24. Mai: Ein Musiker, 60, springt von derselben Dachterrasse. 25. Mai: Ein Landwirt, 61, trinkt Pestizide in einem Dorf bei Heraklion, Kreta. 26. Mai: Ein Familienvater, 72, erhängt sich an einem Olivenbaum bei Heraklion, Kreta. Nikoforos Angelopoulos, Psychiater in Athen, kennt die Nachrichten von den Leuten, die sich umgebracht haben.
Plötzlich ergibt sich eine unheimliche Verdichtung. Nach diesem Faktengewitter braucht der Text kein Portal mehr, keine „Aufblase“, die dem Leser erläutert, warum die folgende Reportage relevant ist. Wie weggeblasen auch der Anklang „linken Agitatortums“, findet Schnibben: „Jetzt hat der Text drei Mal so viele Leser.“
Der spätmoderne Leser ist gelangweilt von alter Dramaturgie, lautet seine These. Der neue Schreiber müsse seine eingefahrenen Muster hinterfragen, sonst wird er weggezappt. „Alles, was Sie in alten Journalistenbüchern gelernt haben – vergessen Sie es“, sagt Schnibben. Geschulte Konsumenten denken heute immer schon einen Schritt weiter. Wie man sie dort abholen kann, demonstriert Schnibben an einem seiner eigenen Texte:
Als alles vorbei war, versuchte der eine, im Rasen des Stadions Camp Nou in Barcelona zu versinken. Weil das nicht klappte, verbarg er sein Gesicht in seinem Trikot und wartete darauf, dass ihn jemand tröstete. Es kam keiner. Der andere hockte traurig auf dem Rasen des Bernabéu-Stadions in Madrid, immerhin mit athletisch hochgestellten Fersen, stand abrupt auf, ging mit schnellen Schritten auf die Kabinen zu, konnte aber nicht verhindern, dass sein bleiches, leeres Gesicht zerfiel in die weinende Grimasse eines Kindes, noch bevor er aus dem Blickfeld der Zuschauer verschwunden war.
Mit diesen Sätzen will Schnibben die „Spiegel“-Leser kurz vor der Fußball-EM in sein Stück „Der goldene Schrei“ über Lionel Messi und Cristiano Ronaldo ziehen. Dann liest er den Einstieg noch mal und findet ihn antiquiert. Ganz aufgeben möchte er seine schönen Sätze auch nicht, also verschiebt er sie ein wenig nach unten und beginnt den Text von Neuem:
Gibt es etwas Lächerlicheres, als zwei Fußballer in ihrer Einzigartigkeit zu vergleichen?
Mit diesem „Augenzwinkern“ will er das Doppelporträt auf eine andere Ebene heben. Sein Subtext lautet: „Hey, schlauer Hund, ich weiß, dass du viel weißt.“
Natürlich ist Dramaturgie weit mehr als nur ein guter Einstieg. Deshalb spricht Schnibben als Nächstes über den Aufbau einer Reportage. Der entsteht allerdings nicht am Schreibtisch, sondern vor allem in der Recherche, glaubt Schnibben: „Zuerst müssen wir uns aus der Wirklichkeit die passenden Brocken zusammensuchen.“ Es ist die Philosophie der perfekt komponierten Geschichte: „Dramaturgie ist 50 Prozent Recherche“, sagt Schnibben, dann erst nennt er die Mittel, die aus Zeitgründen meist leichter verfügbar sind: Gliederung und Sprache.
Nicht, dass Gliederung und Aufbau nicht wichtig wären. Schnibben spricht über Spannungskurven: Wie baut man
in einen Text Informationen ein, präsentiert die „Perlen der Aufklärung“, ohne dass der Leser weiterblättert? Indem man Handlung und Information miteinander verflechtet. „It makes you feel and think at the same time“, zitiert er Bob Dylan über Obamas Redekunst. Nur dann funktioniere eine Reportage „wie ein trojanisches Pferd“, wenn sie die eher trockenen Infos in großen Bildern transportiert.
Klassische Textstrukturen schließe das nicht aus, ist Schnibben überzeugt: Eine Rahmenhandlung etwa, wenn es um einen Protagonisten geht, oder ein verwobener „Zopf“, wenn sich die Geschichten von zwei Menschen im Text verflechten.
Wenn Schnibben fertige Texte bearbeitet, markiert er jeden Abschnitt als Szene, Info, Rückblende oder Gedanke. Mit diesem Skalpell legt er „das Skelett des Textes“ frei. Dann beginnt er, die Blöcke zu verschieben, um nicht nur einen Spannungsbogen, sondern auch eine gute Durchmischung zu erhalten. Hilfreich können dabei Karteikarten sein, bunte Marker, oder wie bei Schnibben eine App wie „iBrainstorm“. Im Seminar beweist er aber, dass er es auch ganz klassisch mit Schere und Klebe kann.
Stellt sich dabei heraus, dass der Stoff sehr kompliziert ist (z. B. der Finanzmarkt), baut Schnibben zusätzlich „Inseln des Bekannten“ ein, an denen der Leser sich retten kann (z. B. einen Rückbezug auf seinen Bausparvertrag). Die Insel-Regel ist quasi das Gegengewicht zu einem anderen Tipp: Wendepunkte zu finden, damit die Geschichten nicht durchschaubar werden. Als Beispiel dient ihm eine Reportage über den letzten Serben in der Albanerstadt Peja im Kosovo. Deren Einstieg „hätte ein Algorithmus generieren können“, kritisiert Schnibben:
Nichts in Peja ist so, wie es einmal war. Nur die Berge haben dem Krieg getrotzt: Wie ein Hufeisen umschließen die schneebedeckten Gipfel die Stadt am Fluss Bistrica. Peja steht heute auf dem Ortsschild, der frühere Name Peć ist durchgestrichen. Peć bedeutet auf serbisch „Ofen“ und tatsächlich ist es den hier lebenden Serben nach dem Krieg zu heiß geworden. Die drittgrößte Stadt im jüngsten Staat der Welt, der Republik Kosovo, ist quasi „serbenrein“.
Der Text als langer, ruhiger Fluss. Hier erwartet der Leser keine überraschenden Wendepunkte. „Beginnen Sie mit einem Drama, nicht mit einem Reiseführertext“, sagt Schnibben. Nachdem er die Reportage umgestellt hat, beginnt sie so:
„Schreiben Sie über andere. Es gibt bessere Menschen als mich. Ich bin nichts Besonderes.“ „Sie sind der einzige Serbe, der nach dem Krieg nicht aus Peja geflüchtet ist.“ „Fragen Sie andere, nicht mich.“
Auch hier sind die Sätze nicht neu, Schnibben „destilliert“ sie aus der Reportage, wo sie sich auf Seite fünf versteckten. Es sind diese kleinen Häppchen, die den schlauen Hund zur Wurst locken: Ein Mensch, der nicht sprechen will über sich, der sich sogar als „nichts Besonderes“ bezeichnet; der aber – und das verrät ein einziger Satz – sehr wohl ein ganz besonderer Mensch ist. Fünf Sätze und ein Widerspruch machen hier das Drama aus, das die Schnitzeljäger auf die Fährte locken wird: Warum ist dieser Kerl der letzte Mohikaner? Wird er doch noch sprechen? Oder kommt ihm die Autorin anders auf die Schliche? („Fragen Sie andere, nicht mich.“) Schon hat der junge Hund die Spur aufgenommen. Hoffentlich gibt’s am Ende ein Schnitzel. Oder zumindest eine Wurst.
Hilmar Poganatz
ist freier Journalist in Berlin und Dozent an der DJS München.
poganatz@blockfrei.net
Erschienen in Ausgabe 07+08/202012 in der Rubrik „Praxis“ auf Seite 53 bis 53. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.