„Wir haben nicht mehr 100 Zeitungsredakteure, sondern 100 Onliner“: Es sind Ankündigungen wie diese, die dazu geeignet sind, bei leitenden Redakteuren Schweißausbrüche auszulösen: Schon wieder jemand, der die Print/Online-Integration offenbar vorbildlich gelöst hat, während es in der eigenen Redaktion vermeintlich schleppend vorangeht. Wenn dann auf Journalismus-Konferenzen wie beispielsweise dem Forum Lokaljournalismus der Bundeszentrale für politische Bildung die Branche zusammenkommt, fährt man in der Regel beruhigter nach Hause. Von wegen 100 Onliner. Der Weg zur integrierten Redaktion ist lang, sehr lang.
Allerdings: Beruhigt ist man ja nur, weil man feststellt, dass die anderen auch nur mit Wasser kochen. Insgeheim hofft man doch, in diesem Sinne nicht beruhigt, sondern angespornt zu werden. Wenn es einen oder sogar einige Leuchttürme gäbe, die es wirklich so viel besser machen, dass alle anderen von ihrem Licht profitieren, indem sie sich etwas abschauen, etwas nachmachen können.
Doch viele Redaktionen, die innovative Konzeptionen verfolgen, stecken gleichzeitig oft genug tief im Alltäglichen fest. Das hat Gründe. Die unbewiesene Vermutung, dass das Schwinden der Auflage auch durch ein hochwertiges kostenloses Online-Angebot noch an Tempo gewinnt, macht es schwer, redaktionelle Ressourcen in die digitale Abteilung umzuschichten. Der Spardruck, unter dem die Redaktionen seit der Jahrtausendwende stehen, hat außerdem zu einem mehr oder weniger massiven Stellenabbau geführt, während die Zahl der Aufgaben stieg und weiter steigt. Zudem ist nicht jeder Printredakteur den Herausforderungen der Netzwelt gewachsen.
Also: Was tun?
Es macht wirtschaftlich und inhaltlich wenig Sinn, für Print und Online komplett parallele Strukturen aufzubauen, gerade im Hinblick auf begrenzte Personalressourcen. Vielmehr muss es darum gehen, die journalistische Exzellenz, die in einer Redaktion steckt, für alle Verbreitungskanäle passgenau zu nutzen.
Oder, wie es der spanische Medien-Berater Juan Antonio Giner auf dem diesjährigen European Newspaper Congress (s. a. S. 38 ff.) ausdrückte: Redaktionen müssen dafür sorgen, dass sie auf allen Kanälen mehr „Kaviar-Content“ produzieren können. Journalistische Qualitäts-Inhalte also, für die Leser vielleicht bezahlen und in deren Umfeld Unternehmen werben wollen. Kaviar also anstelle der Peanuts, die alle machen und die einem an jeder Ecke kostenlos hinterhergeworfen werden. Damit das gelingen kann, müssen „die Onliner“ mehr sein als eine Abwurfstelle für Interviews, die in der Zeitung nicht in voller Länge gedruckt werden konnten.
Online, das ist aber eben oft genug noch eine Abteilung, die zuständig für den ganzen Netzwelt-Journalismus ist – von der Website über Social Media bis zum iPad. Von einer Durchdringung der redaktionellen Kultur, von einem ganzheitlichen Ansatz, der die einzelnen Vertriebskanäle nicht mehr hierarchisch ordnet, sondern gleichberechtigt behandelt, sind viele noch weit entfernt. Es war und ist oft ein Tasten auf unbekanntem Terrain, weil in der Vergangenheit digitale Initiativen selten evaluiert wurden.
Beispiel Modellredaktion
Beim „Kölner Stadt-Anzeiger“ haben wir deshalb die Lokalredaktion Bergisch Gladbach zur „Modellredaktion Online“ ausgerufen. Sie hat unter anderem die Präsenz in den sozialen Netzwerken deutlich gestärkt, ein Raster erarbeitet zur Festlegung, welche Inhalte wann zwischen sieben und 20 Uhr online gestellt werden, neue Formate entwickelt wie „Nachtaktiv“, ein Videoblog über Menschen, die nachts zur Arbeit gehen oder unterwegs sind. Die Redaktion soll mit möglichst vielen Angeboten im Netz experimentieren, ihre Erfahrungen dokumentieren und auswerten und so für alle anderen Lokalredaktionen Erfolg versprechende Beispiele bieten. Denn reiner Aktionismus verbietet sich in Zeiten rückläufiger finanzieller Ressourcen. Es wäre schön, wenn es mehr systematische Evaluation digitaler Initiativen gäbe. Weil es neben den reinen quantitativen Effekten – der Zahl der Page Impressions und Follower – interessant wäre zu erfahren, was das Ganze denn beispielsweise für die Kommunikation mit Lesern oder die Themenfindung gebracht hat.
Und was fehlt – dies zeigt die Studie „X-Media 2012“ deutlich –, sind ein Masterplan und ein systematisches Management von Innovation. Die Studie, an der Journalisten von rund 90 regionalen Tageszeitungen teilgenommen haben (s. S. 30 ff.), zeichnet ein flächendeckendes Bild vom Stand der Crossmedia-Produktion in Deutschland. Die Branche ist in den vergangenen zehn Jahren ein erhebliches Stück vorangekommen – Facebook, Twitter und Co. sind in deutschen Redaktionsbüros längst Alltag. Gleichzeitig besitzt aber kaum eine Redaktion eine Strategie, welche Ziele auf dem digitalen Feld auf welchem Weg erreicht werden sollen. Wenn der „Kaviar“ nicht von den traditionellen Medienhäusern kommt, dann wird ihn jemand anders anbieten. Von den „Peanuts“ werden die Verlage aber dauerhaft nicht leben können. In diesem Jahrzehnt entscheidet sich also nicht nur die Zukunft der Zeitung, sondern auch die Zukunft ihrer Macher.
Lutz Feierabend (51) ist stellvertretender Chefredakteur des „Kölner Stadt-Anzeiger“ und war Kooperationspartner der Studie „X-Media 2012“.
Erschienen in Ausgabe 06/202012 in der Rubrik „Medien und Beruf“ auf Seite 34 bis 34. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.