Die Pointe ist einfach zu gut: Ausgerechnet gestandene Fernsehmacher liefern das beste deutschsprachige Internetvideo des Jahres ab. Das fand zumindest die Jury des Deutschen Webvideopreises, der am 31. März in Düsseldorf vergeben wurde, und zeichnete die Journalisten der ORF-Sendung „Zeit im Bild“ (ZiB) für ihr Protestvideo aus. 55 Mitarbeiter des Senders hatten mit dem Clip gegen ihrer Ansicht nach politisch motivierte Personalentscheidungen innerhalb des Senders protestiert. Doch die Entscheidung der Preisjury sollte man nicht falsch interpretieren: Keineswegs lautet das Signal, dass die alten Hasen vom Fernsehen in Sachen Video am Ende doch die Nase vorn haben. Eher muss man den Juryentscheid als Botschaft an die sogenannten alten Medien verstehen, die Möglichkeiten von Webvideo noch offensiver zu nutzen. „Die haben Eier“, begründete Jurypräsident Mario Sixtus (zugleich Vater des erfolgreichen Web-TV-Formates „Elektrischer Reporter“) kurz und knapp, warum ihn das ORF-Video überzeugt hatte. Daraus kann man durchaus ableiten, woran es nach wie vor mangelt, wenn sich Menschen aus der Print- und Rundfunkwelt dem boomenden Medium Webvideo nähern.
Gesucht: Kreative Konzepte
Dass es diesen Boom gibt, belegen die beeindruckenden Statistiken von Marktführer Youtube. 60 Stunden Videomaterial pro Minute werden dort inzwischen hochgeladen. Stars, wie die Comedy-Truppe „Y-Titty“ oder der Videospieler „Gronkh“, schaffen dank ihrer treuen Fans mühelos sechs- bis siebenstellige Abrufzahlen. Von den damit erzeugten Werbeeinahmen können sie gut leben. Kein Wunder, dass große Fernsehsender längst ein Auge auf die neue Medienbewegung geworfen haben. Die drei Jungs von Y-Titty saßen in diesem Jahr bereits in der Harald-Schmidt-Show und rissen mit dem TV-Dino anzügliche Witzchen. Wer will, kann Ironie des Schicksals darin sehen, dass die in die Jahre gekommene Late-Night-Show kurz nach dem Besuch der Shootingstars aus dem Web von Sat.1 beerdigt wurde. Die kommenden Fernsehstars werden wahrscheinlich auf Youtube gemacht: „Wir beobachten die Szene sehr aktiv und wollen mit den Leuten auch in Kontakt kommen“, sagt etwa Sebastian Weil, stellvertretender Geschäftsführer von ProSiebenSat.1.
Ganz klar: Die Unterhaltungsindustrie kann sich auf eine ganze Menge kreativen Nachwuchses freuen. Der Journalismus hingegen tut sich immer noch schwer damit, in der neuen Bewegtbildwelt Fuß zu fassen, meint Markus Hündgen, einer der Organisatoren des Webvideopreises: „Da ist die Entwicklung in den letzten zwei bis drei Jahren leider stehen geblieben“ (s. Interview Seite 41). Jemand wie Nico Drimecker kann jedenfalls von den Abrufzahlen der Youtube-Stars nur träumen. Er ist Videoreporter für die „Ruhr-Nachrichten“ und produziert lokale Videos aus dem Großraum Dortmund. Vor gar nicht langer Zeit waren Journalisten wie Drimecker noch die Schmuddelkinder der Branche: Ein Reporter, der von Text über Foto bis hin zum Video alles liefert? Das geht doch nicht, schimpfte die Eltern-Generation des Journalismus. Das Schlagwort von der „eierlegenden Wollmilchsau“ _ die natürlich niemand wollte _ wurde in der Diskussion mehr als überstrapaziert, bis sich die Erkenntnis durchsetzte, dass mobile und multimedial geschulte Reporter durchaus bereichernd sein können. Inzwischen haben viele Regionalzeitungen Videoreporter im Einsatz. Ein guter Anfang, meint Hündgen. Aber jetzt müsse der nächste Schritt kommen: „Es fehlt an kreativen Konzepten, wie man mit dem Medium ein breites Publikum erreichen kann.“
Die richtige Verpackung
So lebendig und unbekümmert die jungen Mitglieder der neuen Videoszene sind, so träge wirken Journalisten beim Einsatz bewegter Bilder im Netz. Bis auf den ORF waren beim Webvideopreis keine klassischen Medien nominiert. Dabei ist es ein Mythos, dass komplexe Inhalte auf Youtube keine Chance gegen Katzenclips, Musik und Comedy haben. Man muss die Inhalte nur anders verpacken. Das am schnellsten verbreitete Youtube-Video aller Zeiten heißt „Kony 2012“, mit dem eine US-Organisation in diesem Jahr die Welt über den flüchtigen ugandischen Diktator Joseph Kony aufklärte. Das millionenfach angeklickte Video, in dem unter anderem auch zum Kauf bestimmter Produkte der Organisation aufgerufen wird, ist zu Recht umstritten. Doch es zeigt, dass man die Jugend mit Themen erreichen kann, bei denen die meisten Nachrichtenredaktionen vermutlich mit einem „Für unsere Leser nicht relevant“ abwinken würden.
Auch das ORF-Video belegt, dass kontroverse Themen durchaus das Potenzial zum Youtube-Hit haben. ZiB-Redakteur Dieter Bornemann erinnert sich, wie überrascht er von der Resonanz auf den Clip war, der auf Youtube innerhalb weniger Tage eine halbe Million Mal angeschaut wurde: „Plötzlich war die ZiB-Redaktion cool bei den Jungen. Die, die uns sonst nie geschaut haben, fanden auf einmal, dass wir gute Arbeit leisten.“ Und auch bei dem großen Internet-Thema des Frühjahrs spielte Youtube eine wichtige Rolle. Als die Jugend im Web gegen das Acta-Abkommen mobilmachte, waren Deutschlands bekannteste Youtuber vorne mit dabei und riefen in ihren Clips dazu auf, sich an den Demos zu beteiligen. Seltener angeklickt als die üblichen Spaßvideos wurden die politischen Botschaften nicht.
Doch viele Redaktionen haben Probleme, diese junge Zielgruppe zu erreichen. Lokale Videos etwa kleben häufig zu sehr an der Themenauswahl der Redaktion. „Es kommt vor, dass ich die Vergabe der Sportabzeichen in Werne mache“, sagt Videoreporter Drimecker, wohl wissend, dass es diese Themen im Netz schwer haben. Besser fährt der Videoreporter, wenn er sich an Formaten versucht, die im Web entstanden sind und den Sehgewohnheiten der Nutzer entsprechen: Seine Audio-Slideshows zum Thema „Ein Jahr nach der Loveparade“ erreichten deutlich bessere Abrufzahlen.
Herausforderung Leserdialog
Zu selten vertrauen Journalisten auch den wahren Stärken des Mediums. Das ORF-Video zeigt exemplarisch: Meinungsstarke Videos, die den Zuschauer zu einer Kommentierung herausfordern, kommen an. Bis Ende März wurde der Protest der ORF-Redaktion von den Zuschauern 1.500-mal kommentiert und außerordentlich gut bewertet: 11.000 Zuschauern gefällt das, heißt es unter dem Video, nur 71 drehten den Daumen nach unten. Die Lektion: Webvideos sind ein Dialogmedium.
Das sieht auch Sascha Pallenberg so. Der erfolgreiche Tech-Blogger ( www.netbooknews.de) aus Dortmund lebt inzwischen in Taiwan und verdient sein Geld nach eigener Aussage zu „60 bis 70 Prozent“ mit Videos auf Youtube. Pallenberg stellt auf seinem Kanal die neuesten Handys und Tablets vor, häufig als Erster und exklusiv, immer mit einer klaren Meinung. Pallenberg sagt: „Man muss heute ganz anders auf Kritik reagieren. Das ist die Herausforderung. Aber wer viele Kommentare bekommt, hat auch Erfolg.“ Er nutzt die bleibende Wirkung, die Webvideos auf Youtube haben, nach Googles Hauptsuche immerhin auch die zweitgrößte Suchmaschine der Welt: „Mit einem provokanten Video zum Thema Apple mache ich zehnmal mehr Abrufe als mit einem ähnlichen Text im Blog.“ Die zweite Lektion: Webvideos leben von Charakterköpfen. Nun ist es im Netz nicht schwer, mit Videos über das nächste, beste Smartphone hohe Aufmerksamkeit zu erzielen. Doch Pallenberg hat sich mit einer konsequenten Strategie einen Namen gemacht und so ein Problem gelöst, das für viele Videoproduzenten das größte bleibt: die Finanzierung.
Abenteuer Finanzierung
Regelmäßige Videoproduktion ist trotz mobiler Geräte immer noch aufwendig. Planung, Dreh, Schnitt und Verarbeitung kosten Zeit und Personal. Drei- bis niedrige vierstellige Abrufzahlen pro Video, wie sie auf dem regionalen und lokalen Videomarkt normal sind, reichen nicht, um den Aufwand über Werbung zu refinanzieren. Ein Experiment wagen jetzt die Agentur „2470 Media
“ und die „tageszeitung“ (taz): Die seit dem vergangenen Jahr gemeinsam produzierte Videoserie „Berlinfolgen“ ( www.Berlinfolgen.de) soll vom Publikum bezahlt werden. Die Porträts von außergewöhnlichen Berliner Bürgern sind aufwendige Collagen aus Fotos, Videomaterial und Interview. 10- bis 12.000 Klicks erreichen die meisten Folgen auf der Plattform „Vimeo“, mit Ausreißern in beide Richtungen.
Bis zur Jahresmitte reicht das Geld noch. Ob die Zuschauer Berlin dann weiter folgen können, wird davon abhängen, wie viel ihnen die Serie wirklich wert ist. „Crowdfunding“ nennt sich diese Art der Finanzierung: Fans sind bereit, für Produkte, die ihnen etwas bedeuten, freiwillig zu zahlen. Was bei Kinofilmen schon mit großen Summen funktioniert hat, ist bei journalistischen Projekten noch weitgehend unerprobt. „Das ist absolut ein Modell“, glaubt Markus Hündgen, auch wenn er skeptisch ist, dass sich Videojournalismus allein damit langfristig finanzieren lässt. „Eher könnten Kombi-Pakete funktionieren, bei denen für ein bestimmtes Thema Geld gegeben wird und dann Audio-Slideshow, Reportage und Video zusammen entstehen.“
Michael Hauri, Producer bei 2470Media und unter anderem verantwortlich für die „Berlinfolgen“, will die Zuschauer mit zusätzlichen Anreizen locken: Für fünf Euro Spende gibt es einen Dankesanruf der Produzenten, für 30 Euro schon ein Poster zur Serie. Wer gar 1.000 Euro locker macht, erhält sein eigenes, persönliches Video im „Berlinfolgen“-Stil. Hauri ist verhalten optimistisch: „Es ist sicher kein Allheilmittel, aber gerade für freie Projekte kann es eine Option sein, sich zu finanzieren.“ Grundsätzlich glaubt er an sein Format: „Journalistisch sind Webvideos noch längst nicht ausgereizt. Wir haben inzwischen eine kleine Community aufgebaut, die auch Wünsche äußert, wen sie mal im Porträt sehen wollen. Auch deswegen wollen wir zumindest noch bis Ende des Jahres weitermachen.“ Sollte die Kampagne Erfolg haben, wäre das ein Beweis dafür, dass sich anspruchsvolle Videoproduktionen im Web doch auszahlen. Und Online-Journalismus auch mit bewegten Bildern im Netz seinen Platz finden kann.
Moritz Meyer ist freier Journalist in Köln.
mail@moritz-meyer.net
Erschienen in Ausgabe 04+05/202012 in der Rubrik „Medien und Beruf“ auf Seite 39 bis 39 Autor/en: Moritz Meyer. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.