Frage 1 Hat Sie die digitale Strategie der „Welt“-Gruppe überzeugt? Welche Ansatzpunkte daraus sehen Sie für regionale Medienhäuser übertragbar?
Harald John, Chefredakteur „Neue Presse“, Hannover
Die Strategie, jeden Redakteur auch zum Onliner zu machen, ist sinnvoll und überzeugend.
Die Aufgabe, seine Inhalte in jeden Kanal – von Print über Online bis zur App – zu geben, stellt sich künftig jedem Redakteur – auch und gerade bei Regionalverlagen.
Jürgen Marks stv. Chefredakteur „Augsburger Allgemeine“
Online als Taktgeber für die redaktionellen Workflows zu nutzen – das ist ein mutiger Schritt, der zur „Welt“ wegen der besonderen Gegebenheiten passen könnte. Wenn die Chefredaktion diese Pläne in die Tat umsetzt, ist das Crossmedia in
Reinform. Aber Vorsicht: Der Teufel wird im Detail stecken.
Auf regionale Medienhäuser ist dieser Plan auf absehbare Zeit nicht übertragbar. Die Voraussetzungen der „Welt“ – weitgehend getrennte Print- und Online-Zielgruppen sowie eine Internet-Reichweite, die die der Zeitung übersteigt – sind in unserer
Region nicht gegeben. Zum Glück. Sinnvoll ist die Einführung eines crossmedialen Redaktionssystems und eine Crossmedia-Ausbildung für Journalisten. Beides haben
wir in Augsburg bereits umgesetzt.
Fried Gehring Chefredakteur und Verleger der „Glocke“, Oelde
Die aktuelle Strategie für die digitalen Produkte der „Welt“-Gruppe stellt sich durchaus als überzeugend dar. Künftig jedoch dem Online-Auftritt Vorrang vor der Print-Produktion einzuräumen, schwächt die Print-Objekte in für den Leser unzumutbarer Weise.
Die Ansatzpunkte, wie sie etwa im Bereich der Kompetenzregelung in Redaktionen erläutert wurden, sind übertragbar – in mittelständischen Medienunternehmen schneller zu verändern, etwa bei uns bereits umgesetzt.
Tobias Köhler Redaktionsleiter Online „Stuttgarter Zeitung“
Für überregionale Titel ist es entscheidend, bei neuen Entwicklungen zu den First Movern zu gehören – sei es iPhone oder iPad. Eine gemeinsame Redaktion, die Inhalte für alle Kanäle erstellt – das halte ich für den richtigen Weg. Dass sich diese Redaktion an dem Kanal mit der höchsten Aktualität – also Online – orientiert, ist nur konsequent. Auch für regionale Titel ist es prinzipiell lohnenswert, schnell auf neue Entwicklungen zu reagieren. Bei ganz neuen Endgeräten und Plattformen haben sie allerdings das Problem, dass die Zielgruppe im regionalen Markt zunächst sehr klein ist. Organisatorisch gibt es für Regionalzeitungen meiner Meinung nach mittelfristig keine Alternative dazu, medienkonvergent zu arbeiten – natürlich mit Spezialisten für die jeweiligen Kanäle.
Ulf Schlüter Stv. Chefredakteur „Südwestpresse“, Ulm
Die Gruppe hat ihrem Plan viel Zeit für gründliche Recherche und ausgiebige Tests gewidmet. Man stößt auf überzeugte Blattmacher, die auf ein sich wandelndes Konsumverhalten von Lesern und Usern reagieren. Das alles hört sich vielversprechend an.
Jedes Haus sollte seine Strategie gemessen an den eigenen Bedürfnissen entwickeln. Aus Berlin zu übernehmen wären die große Überzeugungskraft und Argumentationsweise der Verantwortlichen – unter Einschluss des Risikos, auch Fehler zu machen. Und: ein gründlich recherchierter und durch Tests abgesicherter Plan sind eine mehr als gute Grundlage für den Start in das „digitale Abenteuer“ auch auf regionaler oder lokaler Ebene.
Kai N. Pritzsche, verantwortlicher Redakteur faz.net, Frankfurt
Ich fand die Strategie in sich sehr schlüssig, da sie die Themen und nicht die Produkte in den Mittelpunkt stellte. Die am Ereignis statt am Redaktionsschluss orientierten Arbeitzeiten und -abläufe werden, nach der bestimmt turbulenten Übergangsphase, allen heutigen und kommenden Produkten zugute kommen.
Carsten Heil stv. Chefredakteur „Neue Westfälische“, Bielefeld
Zumindest habe ich den Eindruck gewonnen, dass es überhaupt eine Strategie gibt, die zielgerichtet verfolgt wird. Das kann man angesichts der Unsicherheit und Schnelllebigkeit in der Branche nicht überall beobachten. In jedem Fall ist es richtig, auf allen Kanälen von der Marke her und „Online first“ noch früher zu denken, schon bei der Planung. Das macht aber nur Sinn, wenn Nutzer für die Inhalte bezahlen müssen. In der Alltagsarbeit mit dem Bespielen vieler verschiedener Kanäle unterscheiden sich jedoch regionale und überregionale Blätter. Bei allem Respekt: Gut gemachte Regionalzeitungen haben wesentlich mehr Inhalte exklusiv. Viele relevante Infos aus ihrem direkten Umfeld bekommen Leser und User immer noch am besten aufbereitet vom regionalen/lokalen Medienhaus. Da braucht man eine andere Strategie als die nationalen Player. Dem werden „Welt“ und „Berliner Morgenpost“ ja auch gerecht, indem sie unterschiedlich agieren.
Frage 2 Wie schätzen Sie die Chancen für Paid Content ein, welche Voraussetzungen sind Ihres Erachtens dafür notwendig?
Harald John, Chefredakteur „Neue Presse“, Hannover
Seit Anfang März sind Teile des Inhalts von neuepresse.de kostenpflichtig, negative Reaktionen sind weitestgehend ausgeblieben. Insofern kann Paid Content ein geeigneter Weg sein, die Inhalte der Zeitungen zu schützen und den Wert unserer journalistischen Arbeit zu unterstreichen.
Jürgen Marks stv. Chefredakteur „Augsburger Allgemeine“
Paid Content wird die Agenda in den nächsten Monaten wieder bestimmen. Das „Metered Model“ der „New York Times“ ist interessant. Wir werden die Entwicklung aufmerksam beobachten. Voraussetzung ist eine weitere Attraktivitätssteigerung unserer Online-Portale.
Fried Gehring Chefredakteur und Verleger der „Glocke“, Oelde
Der Erfolg von Paid Content richtet sich meines Erachtens nach dem Wettbewerb vor Ort. Wer bezahlte Inhalte anbieten will, kann das nur in einem Markt, der sich ähnlich verhält.
Tobias Köhler Redaktionsleiter Online „Stuttgarter Zeitung“
Ich bezweifle, dass genügend Menschen bereit sind, für reine Nachrichtenangebote im Web zu bezahlen. Wenn überhaupt, muss es sich um sehr exklusiven und sehr werthaltigen Content handeln. Da haben regionale Angebote mit ihrer – meistens weitgehend exklusiven und oft nutzwertigen – Lokalberichterstattung wahrscheinlich sogar bessere Chancen als die großen Player wie „Spiegel Online“, süddeutsche.de oder „Welt Online“.
Ulf Schlüter Stv. Chefredakteur „Südwestpresse“, Ulm
Das ist die Gretchenfrage. Ausprobieren sollte man Paid Content unbedingt. Man wird sehen, auf welche Resonanz die derzeit in Planung oder bereits im Markt befindlichen Modelle stoßen.
Kai N. Pritzsche, verantwortlicher Redakteur faz.net, Frankfurt
Paid Content kann nur dann funktionieren, wenn der Nutzer für sein Geld einen angemessenen Gegenwert erkennt. Agenturlastige Nachrichtenangebote sind da zu kurz gesprungen. Schafft man es, ein digitales Primärprodukt anzubieten, wie „Financial Times“ oder „Wall Street Journal“, das die Netz-Aktualität mit der Marken-Qualität vereint, können neue Erlöspotenziale angegangen werden.
Carsten Heil stv. Chefredakteur „Neue Westfälische“, Bielefeld
Die Chancen steigen. Eindeutig. Aber ob das wirklich zu nennenswerten Einnahmen führt, ist offen. Einen Versuch mit langem Atem ist es jedenfalls wert.“
Erschienen in Ausgabe 04+05/202012 in der Rubrik „Titel“ auf Seite 30 bis 31 Autor/en: Umfrage: Annette Milz. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung
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