Normalerweise hat sich Ursula von der Leyen bei öffentlichen Auftritten im Griff. Ende Februar aber verlor die Spitzenpolitikerin für einen Augenblick in aller Öffentlichkeit die Contenance. Im Rahmen der politischen Gesprächsreihe „Der Montag an der Spitze“ hatte ihr Chefredakteur Georg Mascolo gerade berichtet, wie viele Spitzenposten beim ‚Spiegel‘ mit Frauen besetzt sind – nämlich keine.
„In der Chefredaktion und in der Geschäftsführung des Verlags finden Sie beim Spiegel keine Frauen“, so Mascolo. Die Politikerin schnappt hörbar nach Luft, Mascolo schluckt, das Publikum buht. „Spiegel“-Journalistin Britta Sandberg, die als Moderatorin ebenfalls auf dem Podium sitzt, lächelt betreten. Ihr scheint die Sache peinlich zu sein.
Sandberg hatte die Diskussion selbst mit angestoßen: Sie ist eine von 350 Journalistinnen, die sich zur Initiative „Pro Quote“ zusammengeschlossen haben und fordern, dass innerhalb der nächsten fünf Jahre mindestens 30 Prozent der Führungspositionen in Redaktionen mit Frauen besetzt werden. Ihren Aufruf schickten sie am 26. Februar an Chefredakteure, Intendanten, Verleger und Herausgeber – also just an dem Tag, an dem Mascolo auf von der Leyen treffen und der Ministerin Schnappatmung bescheren sollte. Die Forderung komme „von ungeduldigen Frauen, die lange Zeit glaubten, man braucht so etwas wie eine Quote nicht“, sagte Sandberg auf dem Podium. Sie hätte auch sagen können: „Eigentlich hassen wir die Quote, aber wir haben keine andere Wahl.“ Ernüchterung schwingt bei vielen Frauen mit, die den Aufruf unterzeichnet und ihre Begründung auf www.pro-quote.de veröffentlicht haben. Am anschaulichsten bringt es die ZDF-Moderatorin und Journalistin Dunja Hayali auf den Punkt: „Die Quote ist und bleibt ein Miststück, aber wenn es nicht anders geht, wenn sich kaum einer an Artikel 3 des Grundgesetzes hält, dann muss sie halt übergangsweise einspringen.“
Und die Adressaten?
In deutschen Redaktionen wurde wohl selten so viel gerechnet wie in diesen Tagen. Wie hoch ist der Frauenanteil auf Chefredakteursebene? Wird er besser, wenn die Stellvertreter mit eingerechnet werden? Zählen auch Führungskräfte dazu, die zwar Führungsposten innehaben, aber keine eigenen Teams oder Ressorts leiten? Was ist mit dem Artdirector und den Chefs von Magazinbeilagen? Auf welchen Positionen genau die 30 Prozent erreicht werden sollen, lässt „Pro Quote“ nämlich offen. Lediglich der Nachsatz, dass die Forderung auf allen Hierarchiestufen gelte, deutet darauf hin, dass es den Initiatorinnen nicht um die bloße Gesamtzahl der Führungsposten geht, sondern dass sich auch auf der Spitzenebene etwas ändern soll. Konkreter werden sie nicht. Das lässt den Chefs viel Spielraum für Interpretation.
In den schriftlichen Reaktionen zeigen die sich verständnisvoll. Allen voran die Entscheider der „Zeit“: Mit Giovanni di Lorenzo, Wolfgang Blau und Christoph Amend meldeten sich gleich drei Chefredakteure der „Zeit“-Gruppe zu Wort. „Als Chefredakteur von ‚Zeit Online‘ befürworte ich diese Initiative“, schreibt Blau. Der Anteil weiblicher Führungskräfte liege bei 30 Prozent, wobei er nur Führungskräfte mitzählt, die Personalverantwortung tragen. Er wolle ihren Anteil weiter steigern und setzt dabei auf Transparenz: „Mindestens bis zum Jahr 2017 werden wir einmal jährlich offenlegen, wie sich der Frauenanteil bei ‚Zeit Online‘ verändert hat. „Sein Kollege di Lorenzo widmete der Quote sogar einen Leitartikel in der „Zeit“. Darin weist er ebenfalls darauf hin, dass seine Redaktion die 30 Prozent bereits knapp erreiche. Er zählt Ressortleiter, Stellvertreter und Seitenverantwortliche mit. Folgt man Blaus Rechenbeispiel und zieht stellvertretende Ressortleiter sowie Führungskräfte ohne Personalverantwortung ab, schrumpft die Zahl der Frauen in Führungspositionen von elf auf sieben.
Auch di Lorenzo will den Frauenanteil ausbauen. „Die Leitung so wichtiger Ressorts wie Politik, Wirtschaft, Feuilleton oder Wissen ist fest in Männerhand, ganz zu schweigen von der Chefredaktion oder der Herausgeberschaft“, schreibt er. Innerhalb der nächsten fünf Jahre solle sich das ändern. Konkrete Maßnahmen, um Frauen den Weg in die Führungsebenen der Kernressorts zu ebnen, nennt er aber nicht.
Teilzeitarbeit
wird sicher nicht dazugehören. „Natürlich versuchen wir, Rücksicht auf die Lebensumstände der Kolleginnen und Kollegen zu nehmen“, sagt di Lorenzo dem „medium magazin“. Beispielsweise gebe es einen Mann in leitender Funktion, der jetzt neun Monate in Elternzeit gehe. „Ich bin aber skeptisch, ob sich das Weltgeschehen an die Teilzeit unserer Führungskräfte halten kann. Die Arbeit von Journalisten ist oft schwer vorauszusehen.“ Zudem sollten sich Männer wie Frauen über eines im Klaren sein, wenn sie eine Führungsposition anstreben: „Führung ist nicht nur Freude, sondern auch Verzicht.“
Das sieht Stefan Plöchinger anders. „Es ist sehr wohl möglich, Teilzeit-Chef zu sein“, sagt der Chefredakteur von sueddeutsche.de. „Man muss es nur wollen.“ Aufgabe des Chefredakteurs sei es, dafür die richtigen Rahmenbedingungen zu schaffen, also etwa die Möglichkeit, sich eine Stelle zu teilen. Den Beweis liefert Plöchinger gleich mit: Ein stellvertretender Chefredakteur von sueddeutsche.de arbeitet 80 Prozent, also vier Tage die Woche. „Ein verkrustetes Führungssystem, in dem Diskussionen von Alphamännchen beherrscht werden, tut niemandem gut“, sagt Plöchinger. Auch er hat auf die Forderung von „Pro Quote“ reagiert. „Wir haben die 30 Prozent überschritten, ohne dass wir eine Quotenregelung gebraucht haben“, schreibt er in seiner Antwort. In der Redaktion von sueddeutsche.de sind fünf von 13 Führungskräften weiblich. Plöchinger zählt dazu eine stellvertretende Chefredakteurin und Chefin vom Dienst, drei Team-Chefinnen und die Art-Direktorin. Die Vize-Chefin vom Dienst klammert er in seiner Rechnung aus. „In einigen Redaktionen ist der Archetyp immer noch der gesetzte weiße Mann“, so Plöchinger. Dort könne die Quote sinnvoll sein. „Aber eigentlich wünsche ich mir, dass es auch ohne klappt.“
Das hat auch lange Dagmar Reim, Intendantin des RBB, gedacht. Aber: „25 Jahre lang war ich gegen die Quote. 25 Jahre lang dachte ich: Das wird schon. Irrtum!“, sagt sie heute. Sie hat den offenen Brief auch unterschrieben.
Ohne Quote
zeigt dagegen der „Trierische Volksfreund“ mit einer weiblichen Doppelspitze Flagge – als das einzige deutsche Zeitungshaus: Sowohl Geschäftsführungs- als auch Chefredakteursposten sind mit Frauen besetzt. Chefredakteurin Isabell Funk hat den Frauenanteil in Führungspositionen binnen zwei Jahren von sieben auf 30 Prozent erhöht. Neben sich selbst zählt Funk eine Chefreporterin, eine Leiterin Neue Produkte, eine stellvertretende Reporter-Chefin und eine Koordinatorin Lokales als Bindeglied zwischen Blattmachern und Führungstisch zu den Führungskräften.
Funk hat die Forderungen von „Pro Quote“ nicht unterzeichnet. „Ein gewisser Druck ist sicher angebracht, weil sich sonst nichts bewegt.“ Von der bloßen Forderung, die Quote zu erhöhen, halte sie aber nichts. „Mir fehlt dabei die Analyse. Welche Maßnahmen sollen konkret ergriffen werden?“
Auch Jörg Riebartsch hat den Frauenanteil in den Führungsposten ohne Quotenvorgaben erhöht. Als er 2005 Chefredakteur und Prokurist der Echo Zeitungen GmbH wurde (u. a. „Darmstädter Echo“), gab es in der Redaktion keine weibliche Führungskraft. Heute sind fünf von 17 leitenden Positionen mit Frauen besetzt. Zu ihnen zählt Riebartsch eine Ressortleiterin, die Leit
erin der Redaktion Echo Redaktionsservice, die Zeitungen wie der „Frankfurter Rundschau“ Redaktionsdienstleistungen anbietet, und eine „Koordinatorin für Lesernähe“, die Veranstaltungen wie Talkrunden organisiert, bei denen die Redaktion gezielt mit ihren Lesern in Kontakt tritt. Auch die stellvertretende Leiterin eines Lokalressorts und die stellvertretende Leiterin zweier Lokalausgaben definiert Riebartsch als leitende Funktionen, „da die Ressortleitungen in der Regel als Team agieren“, sagt er. „Man käme ja auch nicht auf die Idee, einen stellvertretenden Chefredakteur nicht als Führungskraft anzusehen.“
Riebartsch geht bewusst auf Frauen zu, die er fördern möchte. „Ich animiere sie gezielt, sich auf Führungsposten zu bewerben.“ Denn die meisten Frauen hätten ein Manko: „Sie trauen sich vieles nicht zu.“ Riebartsch nennt das „Karriereschere im Kopf“.
Die Frage, ob Frauen überhaupt führen wollen, schwingt häufig mit, wenn es um die Besetzung von Top-Positionen geht. Streben Journalistinnen Führungsjobs an, scheitern dann aber aufgrund äußerer Bedingungen – oder haben sie grundsätzlich weniger Interesse, Führungsaufgaben zu übernehmen?
Riebartsch glaubt, dass Letzteres zutrifft: „Auf jeden Fall wollen mehr Männer an die Spitze als Frauen.“ Das hat auch Isabell Funk beobachtet: „Wenn wir eine Volontärsstelle ausschreiben, bewerben sich heute im Schnitt 90 Prozent Frauen. Suchen wir aber einen Ressortleiter, sind die Bewerber überwiegend männlich.“ Giovanni di Lorenzo sieht das ähnlich: „Meiner Erfahrung nach wollen mehr Männer Führungsposten übernehmen als Frauen.“ Er habe erst einen Fall erlebt, bei dem ein Mann ein Aufstiegsangebot abgelehnt hat, „bei Frauen ist das schon häufiger vorgekommen“.
Auch Unterstützerinnen
von „Pro Quote“ haben die Erfahrung gemacht, dass sich Frauen zu Topjobs nicht so hingezogen fühlen wie Männer. „Frauen sind pauschal gesagt weniger machthungrig“, sagt ARD-Moderatorin Gabi Bauer. Das habe auch damit zu tun, dass die Führungsstrukturen meist männergemacht sind. „Zu schlechteren Führungskräften macht die Frauen das aber nicht, es ist eine Stärke.“ Deshalb sei es an der Zeit, dass alle, die wollen und fähig sind, es auch in die hohen Etagen schaffen.
Dagmar Engel, Chefredakteurin der Deutschen Welle, erklärt sich das Phänomen mit gelernten Verhaltensweisen. „Vielleicht liegt es daran, dass Frauen in Machtpositionen möglicherweise nicht so beliebt sind. Gemocht zu werden ist vielen Frauen aber sehr wichtig, weil es von jeher als anständig gilt.“ Schuld seien aber auch fehlende Rollenvorbilder: „Wahrscheinlich gibt es kaum Frauen, die sagen: Ich möchte Chefredakteurin beim ‚Spiegel‘ werden. Das gab‘s ja noch nie.“
Sueddeutsche.de-Chef Plöchinger ist einer der wenigen, die sagen, dass Frauen genauso Lust haben auf Karriere wie Männer: „Ich konnte da keinen Unterschied feststellen. Ich habe immer in jungen Redaktionen gearbeitet, da ist das vielleicht natürlicher als anderswo.“ Starke Frauen hätten eher ein Problem damit, als „Quotenfrau“ zu gelten, meint er. „Unter Umständen heißt es dann: ‚Sie ist es nur geworden, weil es die Quote gibt.‘“ Ähnlich äußert sich auch „Zeit“-Chef di Lorenzo: „Natürlich wird nach dieser Debatte immer ein Restzweifel bleiben. Aber wir würden niemanden zur Führungskraft befördern, nur um eine Quote zu erfüllen.“
Deutsche-Welle-Chefin Engel hat keine Bedenken, dass „Quotenfrauen“ von ihren Mitarbeitern nicht akzeptiert werden könnten. Erstens sei das eine Führungsaufgabe der Chefs: „Er oder sie muss dafür sorgen, dass Getuschel gar nicht erst entsteht.“ Zweitens beweise sich Qualität im Geschäft, sagt die „Pro-Quote“-Unterstützerin. Wer führt, werde akzeptiert, wenn er oder sie einen guten Job macht. „Und drittens: Selbst wenn getuschelt wird – damit muss man als Führungskraft umgehen können. So viel Selbstbewusstsein sollte man mitbringen.“
Auch beim „Spiegel“ macht man sich keine Sorgen um „Quotenfrauen“. „Der ‚Spiegel‘ strebt an, in allen Ressorts – und auch in der Chefredaktion – Frauen an führende Positionen zu befördern“, sagt Chefredakteur Mascolo. In der schreibenden Redaktion liege der Anteil an weiblichen Führungskräften derzeit bei rund 15 Prozent. Welche Kolleginnen er dazu zählt, sagt er nicht. Das Impressum weist von 25 Ressortleitern und Stellvertretern nur vier Frauen aus – alle auf Stellvertreterebene. Wie viele Frauen im Verhältnis zu Männern seiner Erfahrung nach Spitzenposten anstreben? Dazu sagt Mascolo nur: „Diese Frage kann ich nicht beantworten. Aber ich bin zuversichtlich: Es werden genug sein.“
Anja Tiedge ist freie Journalistin und lebt in Hamburg.
autor@mediummagazin.de
Aktion „Pro Quote“: Täglich werden es mehr Unterzeichnerinnen auf www.pro-quote.de.
Am 31. 3. findet in Hamburg die 1. Vollversammlung statt.
Erschienen in Ausgabe 03/202012 in der Rubrik „Medien und Beruf“ auf Seite 30 bis 31 Autor/en: Anja Tiedge. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.