In der Hafenstadt Hamburg wurde die Idee geboren – im historischen Hafen von Tel Aviv, in Jaffa, wurde sie umgesetzt. „Die Moderne im Mittelmeer macht sich heute an ‚Dynamo-Städten‘ deutlich – Hafenstädte mit dem Geruch von Freiheit und Weltbürgertum“, schrieb kürzlich der britische Historiker Philip Mansel im Magazin „Monocle“: Das liest sich fast wie eine Präambel zum Online-Projekt „Harbour Tales“ der Axel-Springer-Akademie (ASA). „Being Connected“ ist der Claim des Projekts.
Die Weltoffenheit der Hafenstädte spiegelt sich in dem Ansatz, Journalisten aus unterschiedlichen Ländern in einem Team zusammenzubringen; genau das könnte die Strategie für den Auslandsjournalismus der Zukunft sein. Denn, befand unlängst Ex-BBC-World-Direktor Richard Sambrook in einem Essay: „In multikulturellen Gesellschaften ist die Definition von ‚Ausland‘ komplexer geworden. Internationale und nationale Newsthemen verschmelzen immer mehr.“
Der Anstoß für das internationale Pilotprogramm kam vom Zeitungsverlegerverband Hamburg; außerdem stehe die Akademie, so ASA-Vizedirektor Rudolf Porsch, für Digitalisierung und Internationalisierung. Das Resultat: ein zweiwöchiger Workshop für Jungjournalisten aus Deutschland und Israel, die nach einem Auswahlverfahren eingeladen worden waren: sieben Teilnehmer aus Deutschland – von „Bild“, „Welt“, „Bild der Frau“ und „Bergedorfer Zeitung“ –, acht junge Kollegen aus Israel – von „Ha’aretz“, „Jerusalem Post“, „Ynet“, „The Marker“.
Wie also, so die Ausgangsfragen, können Hamburger Journalisten, von denen der überwiegende Teil noch nicht in Israel war, in kurzer Zeit Qualitätsjournalismus erstellen – also nicht nur be- und abschreiben, sondern vor allem auch einordnen? Und wie viel tiefer und authentischer fällt die Berichterstattung aus, wenn wir mit internationalen Tandems arbeiten? Die Binnensicht der Israelis, die Draufsicht der Deutschen – sollte so nicht eine neuartige, ausgewogenere Form von Journalismus möglich sein? Zum Projektauftakt gab es jeweils didaktischen Input zu den Themen „Digital Storytelling“, mobiler Videojournalismus (mit Handycams im Hosentaschenformat) und Recherche 2.0. Gast-Dozent war unter anderem Paul Myers von der BBC-Academy of Journalism, ergänzt wurden diese Trainingseinheiten durch zahlreiche Begegnungen und Hintergrundgespräche, wie mit Uzi Benziman, Gründer der israelischen Mediawatch-Seite „The 7th Eye“ oder dem deutschen Botschafter in Israel, Andreas Michaelis.
Auch bei der Konzeption der Projekt-Webseite www.harbour-tales.de wurde berücksichtigt, was das besondere Ziel des Workshops war: Mit modernen Erzählmethoden und Darstellungsformen ein breiteres, vielfältigeres Bild von Israel zu bekommen. Es ging darum, alle Themenbereiche abzudecken, von Lifestyle über Politik bis zu Wirtschaft und Soziales.
„Harbour Tales“ basiert deshalb auf einer horizontalen WordPress-Programmierung, designt von Philip Scholl, entlang einer „Navigation nach dem ‚Thora-Prinzip‘“: Das eigentliche Bild ist weiter als der Bildschirm, der Nutzer soll sich auf dem Horizont weiterbewegen und so neue Aspekte und neue Themen entdecken. Die Seite verzichtet auch auf eine klassische Webnavigation nach Ressortprinzip und lässt den Besucher einen eigenen Weg durch die Seite finden. Das ist (bewusst) nicht der letzte Stand der Suchmaschinenoptimierung, sondern onlinejournalistisches Neuland.
Und das sind die Lehren aus dem Projekt:
1. Digital Storytelling als Chance für modernen Qualitätsjournalismus
Um – gerade politisch streitbare – Themen umfassend zu beleuchten und einzuordnen, lassen sich verschiedene crossmediale Content-Elemente nutzen. Die Kunst dabei: Jedes Einzelstück des Paketes muss die Geschichte insgesamt vorantreiben. Ein Beispiel dafür ist das Themenpaket „The Tough Struggle for Peace“, das sich unter verschiedenen Perspektiven mit dem Zusammenleben von Israelis und Palästinensern befasst. Auch die Reportage aus Sderot, einer israelischen Stadt, die regelmäßig mit palästinensischen Kassam-Raketen beschossen wird, steht für dieses Prinzip.
2. „Hyperlocal“ funktioniert weltweit
Wenn Außensicht (deutsche Teilnehmer) auf Envolvement und Ortskenntnis (israelische Teilnehmer) trifft. Dafür steht beispielsweise der Beitrag „Eating Hummus without talking Politics?“ von Asaf Ronel, Redakteur bei der Tageszeitung „Ha’aretz“. Der Text ist ein meinungsstarkes Lesestück zur Gentrifizierung, eingebettet in ein journalistisches Gesamtpaket über israelischen Lifestyle.
3. Tandem heißt: gleichberechtigt
Manchmal lag die Versuchung nahe, die örtlichen Kollegen als Stringer zu benutzen. Mit Zuträgern zu arbeiten ist einfacher – allerdings nur auf einer der interkulturellen Seiten. Wir standen oft vor der Herausforderung, ein gemeinsames Grundverständnis für Thema und Umsetzung zu definieren.
4. Auch Trainingshäppchen sind alltagstauglich
Wir wollten jeden Reporter in die Lage versetzen, alle Darstellungsformen und Formate umsetzen zu können. Was im Redaktionsalltag so nicht vorkommt. Aber: Es geht! Auch wenn manchmal aus dem gedrehten Material „nur“ eine Bild-/Video-Slideshow wurde. Nicht jeder Redakteur muss alles perfekt beherrschen. Wir haben aber gesehen: Sind Kenntnisse über crossmediale Formate vorhanden, steigt auch die Kreativität.
5. „Process Journalism“
Dieser Workshop war ideal, um zu verdeutlichen, wie transparent journalistische Produktion künftig strukturiert sein wird: Der User nimmt teil am (Recherche-)Erkenntnisgewinn des Reporters, am Entstehen und Gestalten der Story – wie in diesem Fall die Teilnehmer ihre Themen und Haltungen im Alltagstest und im Team abzugleichen hatten.
6. Multikulti braucht (mehr) Zeit
Während die Hamburger strikt auf Trennung von Nachricht und Meinung achteten, waren die israelischen Kollegen oft meinungsfreudiger und wertender in ihren Aussagen. Doch nicht nur an diesem kulturellen Unterschied wurde klar: „Multicultural Storytelling“ muss überproportional viel Zeit auf die konkrete Themenkonzeption verwenden und Raum lassen, um einen gemeinsamen Zugang zu finden. Auch Stereotype sollten dabei ausdiskutiert werden. Das formulierten bereits 2010 die Autoren des „Slow Media Manifest“ in ihrem sechsten Gebot: „Slow Media sind diskursiv und dialogisch: Sie suchen ein Gegenüber, mit dem sie in Kontakt treten können. (…) Das Zuhören ist bei Slow Media ebenso wichtig wie das Sprechen. ‚Slow’ bedeutet hier: aufmerksam und zugewandt sein und auch eigene Positionen aus einer anderen Perspektive betrachten und hinterfragen können.“
7. Die Zukunft des Auslandsjournalismus
„Sind Auslandskorrespondenten überflüssig?“ Eine rhetorische Frage, die Ex-BBC-Mann Richard Sambrook in seinem Aufsatz nutzte, um ihre Aufgabe neu zu fassen: „Eine Reihe von Gründen setzt die Rolle des Auslandskorrespondenten unter Druck und zwingt Medienunternehmen dazu, einen anderen Ansatz für die Berichterstattung zu finden“, schreibt Sambrook. Und zwar mit einem explizit multikulturell aufgestellten Team.
Man kann sagen, „Harbour Tales“ ist es gelungen, schon in einem überschaubaren Zeitraum von nur zwei Wochen, diese neuen Prinzipien von „fusionierender“ Auslandsberichterstattung offensichtlich werden zu lassen. Spür- und hörbar war dies in der Redaktion unter anderem im Zusammenhang mit den Sozialprotesten auf Tel Avivs Straßen, die kurz vor dem Produktionsstart ihren Höhepunkt erreicht hatten. Äußerst leidenschaftlich, aber auch grundverschieden, wurde von den d
eutschen und israelischen Jungjournalisten das Thema „Generationengerechtigkeit“ diskutiert. Und beide Seiten scheiterten: Die Deutschen am Definieren und Erklären, die Israelis bei der Themenentwicklung. Handwerklich wurde zudem deutlich: Die Internationalisierung unseres Berufsstandes schreitet voran, und es ist schon heute für viele Routine, in englischer Sprache zu recherchieren. Doch in Englisch zu schreiben ist etwas anderes. Eine unserer Lehren lautet: Auch hier geht es vor allem um Einfühlungsvermögen in das Zielpublikum, nicht um Fleiß-Punkte.
„Die Israelis haben Lust, etwas zu riskieren und auch mal zu improvisieren“, sagt Yossi Vardi, Hightech-Pionier und Chairman der Innovationskonferenz „Digital Life Design“. Das deutsch-israelische Projekt zeige ein „sehr ansprechendes Online-Panorama von Israels Leben“, so Vardi: „Wir brauchen mehr davon!”
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Die Erfahrungen von Workshop-Teilnehmern:
Kim Nadine Meyer (32), „Bergedorfer Zeitung“:
„Für einen Workshop raus aus dem gewohnten Arbeitsumfeld, nach Israel, zusammen mit Journalisten anderer Nationalität, Sprache und Kultur arbeiten – eine unglaubliche Erfahrung. Mich hat beeindruckt, wie präzise und ausdauernd die Kollegen recherchieren, wie gut sie vernetzt sind. Ihre Art, sich Themen zu nähren, hat mir neue Ansätze für die eigene Arbeit geliefert.“
Asaf Ronel (30), „Ha’aretz“:
„Since I moved to live in Tel Aviv 8 years ago, the Ajami quarter of Jaffa was my second home. Working from the Peres „Peace“ Center, in the middle of Ajami, with German journalists that came to learn and report about Israel, gave me a new perspective of the streets I knew so well, and the way the Arab-Israeli conflict is omnipresent – even if you want to talk about the „normal“ life of the Israelis, or just sell hummus.“
Hans von der Burchard (25), „Welt“, „Computerbild“:
„Spannender Austausch mit israelischen Kollegen sowie gemeinsame Workshops in Video- und Online-Journalismus. Höhepunkt: Der Kurs über die Tricks der Web-Recherche. Anschließend konnten wir das Gelernte gleich anwenden – als Journalisten in einem Land, das wie kein anderes spannende Geschichten auf engstem Raum bietet. Unsere israelischen Kollegen öffneten dabei mit ihren Kontakten so manche Tür.“
Naomi Darom (38), „The Marker“:
„For a week and a half in Jaffa, we got the freedom to hone the tools of multi-media journalism. We had time, we had equipment, we had teachers. We also had the productive friction that comes from working with people from another place and culture. That is the kind of environment that fosters growth, and all too often it is missing from newspaper offices, at least in Israel: I’m sure it will continue to resonate in my work.“
Linktipp
Projektseite von „Harbour Tales“:
www.harbour-tales.de
Erschienen in Ausgabe 12/2011 in der Rubrik „Medien“ auf Seite 44 bis 45 Autor/en: Ansgar Mayer, Simon Kaatz. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.