Man stelle sich einen Fußballer vor, der bei einer wichtigen Begegnung in der obersten Liga jenseits des Strafraums den Ball mit der Hand gespielt hat. Für gewöhnlich gibt es dafür eine gelbe Karte. Im vorliegenden Fall wurde der Spieler für sein Vergehen nicht nur vom Platz gestellt, sondern auch noch ein Jahr gesperrt.
Die Entscheidung des Schiedsgerichts lässt sich leicht rekonstruieren, aber schwer verstehen. Die Härte der Sanktion ist allenfalls dadurch zu erklären, dass René Pfister für einen Verein mit ausgeprägter Hybris spielt, dem viele schon lange mal in den Allerwertesten treten wollten. Wäre er nicht im �Spiegel�-Trikot aufgelaufen, sondern in den Farben des �Weser-Kuriers� oder der �Backnanger Kreiszeitung�, hätte man ihm auch dann eine solche Strafe aufgebrummt?
Mit der Hand zu spielen ist nicht die feine Art. Der �Spiegel�-Redakteur hat unter dem bezeichnenden Titel �Am Stellpult� ein politisches Porträt geschrieben, dessen entscheidende Szenen sich im Keller von Horst Seehofers Ferienhaus abgespielt haben. Leider war der Autor nicht dort, wo er hingehört hätte. Statt sich selbst ein Bild zu machen, hat er sich bei Seehofer und reisefreudigeren Kollegen erkundigt. Nun müssen Journalisten manchmal Szenen rekonstruieren, wenn es anders keinen Zugang gibt. Man denke an einen Folterkeller von Muammar Gaddafi. Eine entsprechende Anfrage an den Despoten zwecks Besichtigung hätte wenig Aussicht auf Erfolg.
Im vorliegenden Fall verhält es sich anders. Der bayerische Ministerpräsident lädt Journalisten häufiger in sein Ferienhaus ein. Viele waren schon in seinem Keller und beinahe hätte ausgerechnet jener Journalist die renommierte Trophäe bekommen, der nicht dort war. So zu arbeiten ist nicht preiswürdig, aber bisweilen journalistische Realität. Wer noch nie �gepfistert� hat, werfe den ersten Stein. Die szenische Rekonstruktion ist erlaubt, wenn sie am Ende die Wirklichkeit spiegelt. Gute Reporter gaukeln nicht vor, sie verweben Erlebtes mit Berichtetem. Das ist manchmal ein schmaler Grat. Pfister hat beschrieben, dass im Keller Züge fahren und dort Figuren aus der Politik ihren Platz haben. Er hat nicht geschrieben: �Plötzlich dreht sich Seehofer um und fährt sich durch sein aschgraues Haar.� Mit einer solchen Formulierung wäre die Grenze des Zumutbaren überschritten gewesen.
Es sind nicht die guten Reportagen, unter denen sich jedes Jahr die Tische beim Deutschen Presserat biegen. Solche Stücke sind journalistische Zusatzangebote. Sie müssen schon deshalb höheren Ansprüchen genügen, weil sie mit vielen Zeilen ein knappes Gut beanspruchen: Aufmerksamkeit. Die Reportage verkörpert kreative Vielfalt, muss überraschen, innerhalb weit gesteckter Biotopgrenzen den Geist der Freiheit atmen. Deshalb dürfen Reporter szenisch rekonstruieren, verdichten, entwirren. Nur eines dürfen sie nicht: Leser für dumm verkaufen.
Vielleicht hätte das Preisgericht Pfisters Werk vorab genauer lesen sollen. Der Anfang wirkt statisch, fast leblos: �Es gibt den Nachbau des Bahnhofs von Bonn �� Die Hauptjury hat darüber hinweggesehen, darin gar ein Stilmittel entdeckt. Man darf einem untadeligen Reporter einen Preis aberkennen, wenn sich herausstellt, dass er gefälscht hat. Man darf einen Preisträger nicht feiern und ihm kurz darauf � ohne ihn zu hören � die Trophäe entreißen, weil es Juroren, die sich vorgeführt fühlen, an den Rezeptoren ihrer Eitelkeit kitzelt.
Lehre der lokalen Artillerie
Die szenische Rekonstruktion steht nicht auf dem Index. Auch in der lokalen Reportage, wo die Eisenbahnkeller näher liegen, wird Augenschein mit Erzähltem verschmolzen. Wenn nur solche Szenen verwendet werden dürften, die auf eigener Wahrnehmung beruhen, gäbe es viele Geschichten nicht. Wahrhaftigkeit lässt sich vor allem über die eigenen Sinne vermitteln, aber eben nicht nur: Entscheidend ist, dass die Geschichte stimmt � in großen Magazinen wie im Lokalen. Dort ist sorgfältige Recherche und Authentizität schon deshalb geboten, weil der Leser im Zweifel schnell an der Gurgel des Schreibers hängt. Zur Sorgfalt gehört es, Quellen ordentlich zu benennen. Beim �Spiegel� in Hamburg ist es Tradition, genau zu �wissen�, wo und wie sich irgendwo auf der Welt ein Huhn kratzt, wie sich ein Banker fühlt, wie ein Politiker seine Modelleisenbahn drapiert. Dies ist zu beklagen. Hier könnte das �Sturmgeschütz der Demokratie� von der lokalen Artillerie durchaus lernen.
René Pfister hätte nach seinem Einstieg mit der Eisenbahn einen kurzen Satz schreiben können: �So was erzählt Seehofer gerne bei Hintergrundgesprächen in seinem Dienstzimmer.� Er hat es nicht getan. Das mag ein handwerklicher Fauxpas sein, zumal in seiner Liga. Betrachtet man den Fall in Zeitlupe, wird deutlich, dass das Geschehen außerhalb des Strafraums liegt und letzlich nicht dazu angetan ist, die Spielregeln als solche zu hinterfragen.
Die Reportage ist als Stilform ganz anderen Anfeindungen ausgesetzt, als es die Debatte um die �Märklin-Affäre� nahelegt. In vielen Lokal- und Regionalblättern wurde sie längst vom Platz gestellt, mit und ohne szenischer Rekonstruktion. Dies ist das wahre Trauerspiel.
Erschienen in Ausgabe 06/2011 in der Rubrik „Medien“ auf Seite 51 bis 51 Autor/en: Michael Ohnewald. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.