Afrika. Seit sie als 19-Jährige Entwicklungshilfe gemacht hat, zieht es sie immer wieder dorthin. Weg von Twitter, Facebook, Internet. Als Social-Media-Junkie in den Busch � ohne Empfang. Drei Tage leidet sie. Dann merkt sie, wie gut die selbst auferlegte Netzabstinenz für ihr inneres Gleichgewicht ist, erzählt Katharina Borchert.
Deshalb ist die 38-Jährige erst mal nach Afrika gereist, kurz bevor sie im März 2010 als Geschäftsführerin zu �Spiegel Online� ging. Um den Kopf freizubekommen. Die erste Anfrage von �Spiegel Online� kam passenderweise per Twitter. Als sie dann im Feierabendverkehr mit Hamburg telefonierte, touchierte sie vor Begeisterung eine Baustelle. Trotzdem: Es fiel ihr nicht leicht, den Ruhrpott zu verlassen, betont sie. Dort hat sie als Chefredakteurin seit 2006 für die WAZ-Gruppe das Internetportal �DerWesten.de� aufgebaut, 2008 auch die Geschäftsführung von �WAZnewMedia� übernommen. Ein Mammutprojekt, fünf WAZ-Blätter in einem Online-Auftritt zu vereinigen. Die damals 33-Jährige war eine der bekanntesten deutschen Bloggerinnen. Als �Lyssa� verfasste sie preisgekrönte Alltagsprosa über Hunde, Sex-Unfälle und andere Skurrilitäten. Nach dem Karrieresprung zur WAZ musste sie, Jüngste der Führungsriege, schnell in die Rolle der Chefredakteurin wachsen: �Ich habe mich gefragt: Wie geht das? Von der Bloggerin zur Chefredakteurin eines eher konservativen Hauses. Da fehlte mir ein Rollenvorbild, weil es kaum Frauen in dem Bereich gibt.�
Ihre Lösung: Das Nasenpiercing blieb drin, der Kapuzenpulli fortan zu Hause. Als Tochter des ehemaligen Bundeslandwirtschaftsministers Jochen Borchert in der Regierung Kohl hat sie sich früh von allzu Konservativem abgegrenzt und gelernt, sich trotz guten Verhältnisses vom Elternhaus in Wattenscheid zu emanzipieren.
Dieser Linie blieb sie auch als Chefin in Essen treu. Ins Großraumbüro der �Westler� stellte sie einen Kicker und schaffte Start-up-Atmosphäre. Borcherts Prinzip: Starke Mitarbeiter auf Augenhöhe. �Ich bin ein Freund möglichst flacher Hierarchien, mein Büro ist für jeden offen�, sagt sie. Und den Onlinern predigte sie mehr Selbstbewusstsein: �Wir sind keine Pixelschubser und Contentmanager, sondern Journalisten.� Das wirkte, die Stimmung im Team war gut. Die Klickzahlen blieben jedoch unter den Erwartungen. Ihr großes Projekt, mit �Geotagging� Artikel lokal zu verorten � unausgegoren, gibt sie selbstkritisch zu: �Wir haben nicht weit genug gedacht. Nur Nachrichten zu verorten reicht nicht. Wir wollten eigentlich die Onlinegemeinde ins wahre Leben transferieren.� An die Idee von einem lokalen Netzwerk glaubt sie immer noch. Die Kluft zwischen Print und Online konnte sie aber nicht schließen. Am Ende ist es ein offenes Geheimnis, dass zwischen Borchert und WAZ-Chefredakteur Ulrich Reitz die Chemie nicht stimmt.
So harte Grundlagenarbeit wie dort muss sie bei �Spiegel Online�, dem Vorreiter der Branche, freilich nicht leisten. Die erste Zeit ist trotzdem schwer. Sie spricht jetzt zum ersten Mal öffentlich darüber: Kurz nach Antritt in Hamburg erblindet sie auf einem Auge. Die Ärzte vermuten eine Augeninfektion afrikanischen Ursprungs, machen endlose Testreihen an ihr. Nach jeder Untersuchung geht sie trotzdem zur Arbeit. Quälende zweieinhalb Monate. Als sie beginnt, sich mit dem Zustand abzufinden, verschwindet die Erblindung, ebenso plötzlich, wie sie kam. Heute sieht sie das Positive: �Ich habe in der Zeit viel Zuspruch bekommen vom Pförtner bis zur Verlagsleitung.� Mancher in der Branche hatte sich da schon gefragt, warum man so wenig von ihr hört. Aber sie wollte kein Mitleid, sagt sie, deshalb habe sie geschwiegen.
Seit gut einem Jahr nun also hauptberuflich Geschäftsführung, gerade wurde sie vom Weltwirtschaftsforum zum �Young Global Leader� gewählt. Kein vorgezeichneter Weg. Ihr fehlt der kaufmännische Background. Sie sieht ihre Aufgabe auch eher in der strategischen Ausrichtung. �An der Schnittstelle zwischen Redaktion und kaufmännischem Bereich� ist sie angesiedelt, heißt es beim �Spiegel�. Von Verlagsseite kommt ein weiterer Geschäftsführer, wie beim �Spiegel� üblich: Matthias Schmolz, seit 2003 Leiter des �Spiegel�-Verlages, ist als Nachfolger von Fried von Bismarck auch für �Spiegelnet� und �SpiegelTV� verantwortlich. Operativ führt aber Borchert die Geschäfte von �Spiegel Online�. Die Hierarchien im Onlineteam scheinen dennoch derzeit unübersichtlich. Seit Ende Februar ist �Spiegel�-Ko-Chefredakteur Mathias Müller von Blumencron verantwortlich für die digitalen Angebote, arbeitet nun intensiver mit �Spiegel Online�-Chefredakteur Rüdiger Ditz und ihr zusammen. Wie diese komplexe Konstellation funktioniert, muss sich noch zeigen.
Die bisherige Bilanz: Mit Ditz hat Borchert das Mobilportal relauncht, die iPhone-App, ein neues Ressort �Karriere� mit dem �Manager Magazin� eingeführt. Nun erneuern sie die Videoseite. Die ganz große Innovation, wie es einige von ihr erwarten, ist noch nicht dabei. Sie will eine �onlinegerechtere Taktung� erreichen: �Wir sollten nicht alle zwei Jahre einen großen Relaunch machen, sondern alle drei Monate viele kleine Sachen entwickeln.� Von Bezahlschranken hält sie wenig, will stattdessen bleiben beim Prinzip: �Ohne Paid-Content für Online-Inhalte, und ein klar abgegrenzter, aber möglichst attraktiver, opulenter Werbebereich ohne Pop-ups.�
Ihre Herzensangelegenheit bleibt Social Media: �Bei den Flaggschiffen, New York Times� oder �Guardian� twittern selbst Chefredakteure und Ressortleiter. Es wird höchste Zeit, dass wir da mehr tun.� Bislang liefen bei Twitter nur Nachrichten-Feeds von �Spiegel Online� ein. Für sie zu wenig: �Wir müssen ansprechbar sein.� Zwei Redakteursposten haben sie deshalb kürzlich nur für Social Media geschaffen. Sie selbst twittert munter unter ihrem alten Blognamen �lyssaslounge� weiter. Offenherzig, ohne Rücksicht auf sonst übliche Geschäftsführer-Diplomatie: Als sie sich bei den �Mainzer Tagen der Fernsehkritik� über Ranga Yogeshwar und dessen aus ihrer Sicht veraltete Vorstellungen von Onlinemedien ärgerte, zwitscherte �Lyssa� ihre Kritik während des Vortrages aus der ersten Reihe: �Möchte wissen, wer Yogeshwar das Internet ausdruckt.� Die Geschäftsführerin Borchert musste sich anschließend gegen die Welle von Kommentaren wappnen. Doch sie will sich keinem inneren Zensor unterwerfen, auch wenn es nicht immer ins Rollenbild einer Geschäftsführerin passt.
Ihr großes Ziel für �Spiegel Online�: �Dass der Hunger nach Neuem bestehen bleibt. Das ist eine Herausforderung für ein Unternehmen, das seit sechs Jahren schwarze Zahlen schreibt: nicht bequem zu werden.� Daran muss und will sie sich nun messen lassen.
Erschienen in Ausgabe 06/2011 in der Rubrik „Medien“ auf Seite 32 bis 33 Autor/en: Iris Ockenfels. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.