„Von einem Pudel habe ich so gar nichts“
Manfred Bissinger interviewt von Roger Willemsen: Dieses Gespräch ist das Vorwort von Bissingers Textsammlung „Lauter Widerworte“, die nun bei Hoffmann und Campe erschien, jenem Verlag, dessen Corporate Publishing-Bereich der Publizist bis Anfang des Jahres leitete.
Wir veröffentlichen hier das komplette Gespräch aus dem Buch.
Interview: Roger Willemsen
Sie mögen es bestreiten oder nicht, aber Sie sind eine Person der Zeitgeschichte, und es gibt Schlüsselszenen der letzten Jahrzehnte, da weiß man: Ein Foto, auf dem Bissinger nicht drauf ist, das muss er selbst gemacht haben. In welcher Rolle sehen Sie sich selbst? Mitwirkender? Anreger? Chronist?
MB: Sie übertreiben schamlos. Ihre Frage ist allerdings leicht beantwortet: Ich habe mich in allen drei Rollen versucht.
Im engeren Sinne sind Sie wohl vor allem Journalist gewesen. Lässt sich das Ethos des Journalisten Manfred Bissinger auf den Begriff bringen?
MB: Grundsätzlich wollte ich gern mitmischen, für mehr Aufklärung sorgen, mitarbeiten an einer wirkungsvollen Kontrolle der Macht. Ich war in die Welt der Nazi-Verbrechen geboren worden. Sie sollten sich nie wiederholen können. Deshalb wurde ich Journalist.
Sie möchten der Flüchtigkeit der Zeit etwas entreißen oder warum sonst dieses Buch?
MB: Ich bin gerade 70 geworden und Thomas Ganske, der Verleger von HOFFMANN UND CAMPE, mit dem ich die letzten zwei Jahrzehnte an MERIAN, an der WOCHE und manch’ anderen Projekten gearbeitet habe, regte an, interessante Wegmarken meiner journalistischen Arbeit in einem Buch zu dokumentieren. Für mich ein schöner Gedanke. Ausgewählt werden konnte natürlich nur ein sehr kleiner Teil aus weit über 2.000 Kommentaren, Essays, Reportagen und Gesprächen.
Sie haben also aus Ihrem persönlichen Archiv herausgesucht, was Sie heute noch für lesenswert halten?
MB: Ganz so einfach war es leider nicht. Ich besitze kein geordnetes Archiv. Es gibt weit über hundert Kartons voll mit Briefwechseln, persönlichen Notizen und Materialien aus dem halben Jahrhundert journalistischer Arbeit. Die auszuwerten, womöglich für Autobiografisches, wird mich noch lange beschäftigen. Hilfreich bei der Suche nach gedruckten Artikeln war am Ende – wie könnte es in diesen Zeiten anders sein? – das Internet, dessen beste und nachhaltigste Funktion ja die eines gewaltigen Archivs ist.
Vor dem man auch erbleicht angesichts vergangener Irrtümer? Fehleinschätzungen?
MB: Überrascht und verwundert hat mich Einiges. Ich halte es mit Egon Erwin Kisch, der vor der Veröffentlichung seiner gesammelten Kriegsnotizen den Satz schrieb: „Was mir heute falsch erscheint, war damals richtig.“ Oder anders gesagt: Manches von dem, was hier noch einmal gedruckt wird, würde ich heute so nicht mehr formulieren. Die Erfahrung macht friedlicher. Im Übrigen gilt: Wer seine Biografie verleugnet, verleugnet sich selbst.
Angesichts der Fülle des Materials: Hatten Sie eigentlich noch im Kopf, welche Themen Sie mal beschäftigt hatten?
MB: Alle nicht, einige schon. Es gab Überraschungen. Manches musste von vornherein aussortiert werden, weil es nur dem Augenblick geschuldet war. Beispielsweise Manuskripte für das NDR-Fernsehen. Ich drehte ja einige Jahre als Reporter für Panorama, losgeschickt vom damaligen Chefredakteur Joachim Fest, der später als Herausgeber zur FAZ wechselte. Es waren die unruhigen Jahre des NDR und damit der ARD. Panorama war ein investigatives und streitbares TV-Magazin, konzipiert nach dem berühmten Vorbild der BBC.
War man dort mutiger, unabhängiger als heute, war die Wirkung gravierender?
MB: Wir kannten keine Arbeitsplatzsorgen und waren schon deshalb unabhängiger, als es die Kollegen heute sind. Investigativer Journalismus steckte noch in den Kinderschuhen, Leser und Zuschauer waren dankbar für jede kritische Aufarbeitung ihrer Gegenwart; darauf hatten sie lange verzichten müssen. Die Politik schätzte das natürlich nicht. Sie hat ständig versucht, Einfluss zunehmen. Auf Dauer aber beförderte sie damit nur unseren Ruf als unabhängige Journalisten, stärkte unsere Glaubwürdigkeit und förderte die Einschaltquoten.
Jedenfalls hatten Sie das Glück, in turbulenten Zeiten auf der Brücke des Journalismus zu stehen.
MB: Die Skandale Nachkriegsdeutschlands lieferten ausreichend Themen, für die es lohnte, sich ins Zeug zu legen. Das begann mit der SPIEGEL-Affäre und ihren Folgen, das reichte über den Kriegsrichter Filbinger, der Ministerpräsident geworden war, und endete bei den Vorläufern von Baader-Meinhof. Meine Texte von damals sind ohne bewegte Bilder unvollständig.
Das gilt dann auch für Ihre Jahre als TV-Moderator?
MB: Für die noch mehr. Ich war engagiert als Co-Moderator von 3-2-1, der inzwischen legendären Talkshow im Dritten Programm des Hessischen Rundfunks. Drei Moderatoren, zwei (kontroverse) Gäste, ein Thema. Die Gastgeber waren: Luc Jochimsen (damals Chefredakteurin des Hessischen Fernsehens, heute Bundestagsabgeordnete der Linken) in der Mitte, rechts und links von ihr Michel Friedman (CDU-Vorstandsmitglied und aktiv im Zentralrat der Juden) und ich, damals Chefredakteur und Herausgeber der WOCHE. Als Friedman zum ZDF abwanderte, kam Hugo Müller-Vogg (damals noch Mitherausgeber der FAZ und inzwischen Berlin-Kolumnist von BILD). Eine streitbare Sendung mit großer Bandbreite: Eingeladen waren Manager ebenso wie Gewerkschafter, Politiker wie Künstler, aufstrebende Talente, wie beispielsweise die junge Andrea Nahles oder Angela Merkel, aber auch streitbare Zeitgenossen, wie Gregor Gysi oder Bischof Dyba.
War Angela Merkel in der Sendung schon erkennbar jene, unter deren Regentschaft wir gerade mündige Bürger sein dürfen?
MB: Ihr Wille, die Welt in ihrem Sinne zu gestalten, war deutlich spürbar.
Haben Sie sie unterschätzt?
MB: Dass sie, um an die Macht zukommen, einmal Helmut Kohl beiseite räumen würde, hätte ich weder für möglich gehalten noch ihr zugetraut.
Hat sie Sie unterschätzt?
MB: Journalisten spielen in ihrer Welt keine Rolle. Sie können nützlich sein, aber damit hat es sich auch.
Ausschnitte aus Ihren früheren Buchveröffentlichungen haben Sie in diesen Band nicht aufgenommen?
MB: Die Bücher liegen ja vor; hier würden sie den Rahmen endgültig sprengen. Der Band über das Fiasko des STERN mit den gefälschten Hitler-Tagebüchern umfasst allein 240 Seiten. Auch Bücher zu Wahlen sind Schnee von vorgestern. Eines trug den Titel ‚Schröder oder Merkel’ und war ein Kompendium von A wie Agenda 2010 bis Z wie Zeugnis. Ich schrieb den Schröder-Part, Hugo Müller-Vogg den über Merkel.
Die Hitler-Tagebücher! Sie waren verantwortlicher Redakteur beim STERN, hatten aber selbst mit der größten Pleite des Nachkriegsjournalismus nichts zu tun. Sie ereignete sich nach Ihrer Zeit dort, aber Hand aufs Herz: Hätte Ihnen dieser Fehler auch unterlaufen können ?
MB: Nein. Mir wäre das wohl nicht passiert, davon bin ich überzeugt. Ein Abdruck von Hitlers persönlichen Blähungen, und mehr stand ja nicht drin, wäre mir so ekelhaft gewesen, dass ich ihn zu verhindern gewusst hätte. Zu Allererst über meinen ehemaligen Chef, den großen Hitler-Spezialisten und Historiker, Joachim Fest. Sein Gutachten hätte die Fälschung sofort entlarvt.
Warum war der STERN so fahrlässig?
MB: Er wollte sich seine ‚Sensation’ nicht nehmen lassen und hat deshalb alle Regeln verantwortlichen Journalismus’ über Bord geworfen. Zudem hofften sie mit so einem scoop die lästige Konkurrenz abzuschütteln.
Nach dem STERN folgten Jahre ohne journalistische Arbeiten?
MB: Exponierte Journalisten hatten es schon damals schwer, eine neue Redaktion zu finden. Da mir das Herumsitzen noch nie lag, landete ich nach einigen Monaten als Sprecher des Senats unter Bürgermeister Hans-Ulrich Klose im Hamburger Rathaus. Mit anderen Worten: Auf der anderen Seite der Barrikade. Das war sehr lehrreich. Ich gründete eine Zeitung ‚Wir Hamburger’, schrieb Reden und pries des Bürgermeisters kritische Haltung zur Atomkraft.
Genauer: Aus Bissinger wurde Klose oder wandelte sich Klose zum Bissinger?
MB: Letzteres suchte die BILD-Zeitung zu suggerieren. Klose stand damals der Marktmacht des Springer-Verlages in Hamburg äußerst kritisch gegenüber.
Sie beherrschen den volkstümlichen Ton, das Appellative, auch Effektvolle?
MB: Die Antwort auf diese Frage liefert das Buch.
Haben Sie nicht auch mal für Willy Brandt geschrieben?
MB: Ja, ich war gelegentlich vom Planungsstab des Kanzleramtes gebeten worden Versatzstücke für seine Reden zu liefern. Übrigens auch für seinen Nachfolger, Helmut Schmidt.
Welches waren Ihre Themen?
MB: Es reichte von der Aufarbeitung der Nazi-Vergangenheit, über den Frust der jungen Generation auf die autoritäre Gesellschaft bis zur Notwendigkeit des Aufbegehrens der 68er. Ein Aufstand übrigens, der Nachkriegsdeutschland nach Europa geführt hat. Ein wichtiges Thema für mich war die beginnende Umweltzerstörung. Aus dieser Zeit stammt die These von der notwendigen Aussöhnung von Ökonomie und Ökologie. Daran arbeiten sich beide Seiten noch heute ab. Im Hamburger Rathaus, das direkt verbunden war mit der Handelskammer, lernte ich die heilsame Wirkung von Kompromissen kennen.
Zurück zum Buch: Nach welchen Kriterien haben Sie die Texte ausgewählt?
MB: Ich sagte schon, es galt, weit über 2000 Artikel aus STERN, Konkret, Natur, MERIAN und der WOCHE, wo ich jeweils auch für die Redaktion verantwortlich zeichnete, zu sichten. Aber auch aus anderen Blättern, für die ich später schrieb, wie die Süddeutsche Zeitung, die WELT, den Tagesspiegel, BILD oder die ZEIT. Diese Arbeiten wiederzufinden, war nur denkbar mit der Hilfe der früheren WOCHE-Dokumentare Kerstin Weber-Rajab und Tillman Baucken, deren Profession es war und ist, nachzuforschen und zu graben, denn so manches Mal versagte selbst das Internet. Die Spreu vom Weizen trennen half Anna Mikula, die mit mir bei der WOCHE arbeitete und erfolgreich das Kulturressort aufbaute. Gegliedert ist der Band nach den üblichen Zeitungs- und Zeitschriftenressorts inklusive aller klassischen journalistischen Formen: Kolumne, Kommentar, Reportage, Essay, Gespräche. Dass Anna Mikula auch das ein oder andere Gespräch ausgewählt hat, freut mich besonders, denn Gespräche sind die authentischste Form des Journalismus, häufig sogar aufschlussreicher zur Einschätzung politischer Entwicklungen und ihrer Protagonisten, als Kommentare oder Porträts.
Bei über 2000 Arbeiten musste sie ganz schön aussortieren?
MB: In der Beschränkung liegt die Würze und natürlich in den Irrtümern, denen ich erlegen bzw. aufgesessen bin. Zum Beispiel der voreiligen Einführung der neuen Rechtschreibregeln. Zu vernachlässigen waren auch frühe Fingerübungen (ich habe mein Leben lang jede Zeile mit der Hand geschrieben) aus den Anfangsjahren bei der ‚Vieh- und Fleischwirtschaft’, der ‚Augsburger Allgemeinen’, der ‚Donau-Zeitung’ oder der dpa in Hamburg, wo ich jeweils das journalistische Handwerk lernen durfte …
… wie gerne hätte ich das gelesen!
MB: … und laut gelacht. Da befruchtete schon mal der Samen Goethes die Bühne. Interessanter wurde mein Autorenleben, als ich zum STERN wechselte, den ich elf spannende Jahre lang mit gestalten durfte, als Redakteur, als Reporter, als Chef vom Dienst und schließlich als der Stellvertreter Henri Nannens in der Chefredaktion…
… und Henri Nannen war der heute vermeintlich ausgestorbene Typus des Instinkt-Chefredakteurs und Aufklärers, des Überzeugungs-Journalisten …
MB: … er war der Begründer dieser Spezies. Heute lässt der Wettbewerb solche Charaktere nur noch selten zu. Auf dem Weg dahin ist vielleicht Kai Diekmann, der Chefredakteur von BILD. Er vereint die Eitelkeit, den Willen zum Auftritt und den journalistischen Instinkt, die zu so einem Täter-Typ gehören müssen. Diekmann agiert politisch allerdings eher rechts der Mitte, während Nannen links davon verortet war.
Die Chefredaktion des STERN allerdings haben Sie dann über Nacht verlassen müssen.
MB: …ja, ich war bei Reinhard Mohn, dem Prinzipal von Bertelsmann, in Ungnade gefallen, weil der STERN unter meiner Verantwortung einen Artikel veröffentlicht hatte, der Mohn zutiefst missfiel. Er war geschrieben von einem ehemaligen Wirtschaftsressortleiter des SPIEGEL, Kurt Blauhorn mit Namen. Der erfahrene und angesehene Kollege setzte sich mit Unternehmen auseinander, die ihren Profit durch Flucht vor den deutschen Steuergesetzen ins Ausland zu mehren suchten. Eine der genannten Firmen war der Bertelsmann Verlag, zu dem auch mehrheitlich der STERN gehörte. Für uns war es selbstverständlich, Ross und Reiter zu nennen, auch wenn so der Verlag Gefahr lief, einen Kratzer abzubekommen. Es war für mich unvorstellbar, ja, es schien mir unmoralisch und heuchlerisch, andere Unternehmen anzuprangern, über das Eigene aber zu schweigen.
Heute würde eine solche Geschichte nicht einmal in der Redaktionskonferenz vorgeschlagen, sie fiele der internen Selbstzensur zum Opfer, oder?
MB: Da haben Sie sicher Recht, das eigene Haus kritisch zu sehen gehört nicht mehr zu den journalistischen Tugenden. Aber es wäre heute auch keine so gute Geschichte mehr. In der globalisierten Welt bleibt vielen Unternehmen gar keine Wahl.
Kann man pauschal sagen, wie sich der Journalismus seit damals verändert hat?
MB: Die Grundbedingungen für Verlage und Redaktionen sind wesentlich schwieriger, als zur damaligen Zeit. Es gab weder kommerzielle TV-Programme noch privaten Rundfunk. Vom Internet ganz zu schweigen. Das war noch nicht erfunden. Mit anderen Worten: Es ging ökonomisch eher beschaulich zu, und wir hatten noch mit einem motivierten Publikum zu tun, dass großen Nachholbedarf an freier Meinungsäußerung hatte und nicht so gesättigt war wie heute. Zudem galt es, große Teile der Welt zu entdecken. Die Redaktionen schöpften in jeder Beziehung aus dem Vollen, inhaltlich ebenso wie wirtschaftlich. Wir arbeiteten höchst privilegiert. Die Verlage stellten viel Geld für aufwändige Recherchen, lange Reisen und üppige Honorare zur Verfügung. Selbst auf einen Redakteur/Reporter mehr oder weniger kam es nicht an. Es war die Zeit der glückseligen Einheit am gemeinsamen Erfolg von Journalisten und Verlegern.
Haben Sie ein Beispiel parat?
Ich war in New York, um mitzubieten, auf einer Auktion der Memoiren von Henri Kissinger. In der Endrunde für die deutschen Rechte waren SPIEGEL und STERN. Es wurde in Schritten von jeweils 100.000 Dollar verhandelt. Wir waren gerade bei 700.000 angekommen, als ich in Hamburg anrief, um mich rückzuversichern. Meine Zeichnungsbefugnis reichte nur bis 500.000 Mark. Henri Nannen war nicht da, also ließ ich mich mit dem verantwortlichen Zeitschriftenvorstand, Rolf Poppe, verbinden. Er musste aus einer Sitzung geholt werden. Als ich ihm die Situation schilderte, meinte er: „Und deshalb rufen Sie mich an? Dann unterschreiben Sie halt zwei Zettel, Sie Idiot“ – und legte auf. So war das damals. Geld spielte keine wirkliche Rolle. Für Auflage und Ansehen wurden große Summen investiert. Jede Redaktion wollte die besten, die interessantesten, die wichtigsten Texte drucken. Dafür war so gut wie jede Summe recht. Die Verlage konnten großzügig sein, denn die werbetreibende Industrie hatte nur wenige Wahlmöglichkeiten, um ihre Produkte anzupreisen. Manchmal konnte sich der STERN vor Anzeigen für eine Ausgabe nicht retten. Es gab sogar – heute unvorstellbar – einzelne Hefte, für die aus technischen Gründen Anzeigen abgelehnt werden mussten. Die Druckmaschinen bewältigten die Umfänge nicht. Selbst über einzelne Versuche, politischen Einfluss zu nehmen, konnten die Verleger lachen.
Aus den Redaktionen hört man heute von recht skrupellosen Fällen versuchter Einflussnahmen. Erzählen Sie doch mal von den Anfängen.
MB: Es gab eine Gruppe von Unternehmen, denen der politische Kurs von STERN, SPIEGEL, ZEIT wenig passte. Sie schmähten Willy Brandt als ‚Vaterlandsverräter’ und wollten unter allen Umständen seine Ostpolitik zu Fall bringen. Angeführt wurde diese auf der rechten Flanke der Republik angesiedelte militante Gruppe von einem gewissen Herrn Zappe, der als Marketingleiter des Schnapsbrenners „Asbach-Uralt“ amtierte. Im Hintergrund mauschelte der Yellow Press-Verlag Bauer mit. Zappe wollte die so genannte „Hamburger Kumpanei“ durch Anzeigenentzug zur politischen Umkehr zwingen. Tatsächlich waren die Redaktionen der drei großen Hamburger linksliberalen Publikationen befreundet und halfen sich gegenseitig. Die Verleger von ZEIT und STERN (Gerd Bucerius) und SPIEGEL (Rudolf Augstein) ermunterten Henri Nannen, die Attacken im STERN zurückzuschlagen. Der wiederum hatte die geniale Idee, in der wöchentlichen Romanfolge am Ende des Blattes immer dann, wenn Alkohol getrunken wurde – und das war fast in jeder Spalte der Fall – den Satz einfügen zu lassen: „Möchten Sie einen Asbach oder darf’s was Besseres sein?“ Die Branche feixte und nach einigen Wochen hisste Herr Zappe die weiße Fahne.
Aber Augstein, Nannen und Bucerius waren doch nur ein Teil der öffentlichen Meinung?
MB: Richtig. Es gab auch das konservative Lager, das von Axel Springer angeführt wurde. Er verlegte WELT und BILD und wurde ideologisch befeuert vom Bauer-Verlag mit der QUICK. Dazu kam BURDA mit BUNTE, deren Chefredakteur Hubert Burda aber eher im Sichten fischte. Und nicht zu vergessen, die vielen großen, regionalen Blätter, das ZDF und – ganz wichtig – die einflussreiche Frankfurter Allgemeine Zeitung.
Die ‚Hamburger Kumpanei’ stand aber auch nicht nur auf drei Beinen?
MB: Keineswegs. Zu unserem Lager zählten die Süddeutsche Zeitung, die Frankfurter Rundschau, die Abendzeitung in München und die großen ARD-Anstalten NDR und WDR.
Und diese beiden Lager standen sich feindlich gegenüber?
MB: Wenn die eine Seite Position bezog, schoss die andere dagegen. Das war so bei der Ostpolitik von Willy Brandt und Egon Bahr, bei der Berichterstattung zur Studentenrevolte, zu den Berufsverboten oder gar dem Kampf um mehr Mitbestimmung. Es gab klare Fronten und klare Kante. Die Begriffe Rechts und Links hatten noch ihre ursprüngliche Bedeutung. Wie gesagt, es waren gute Jahre, für Leser ebenso wie für Journalisten.
Und Sie immer mittendrin?
MB: Was heißt mittendrin? Ich drehte voller Vergnügen mit am großen Rad. Schließlich war ich Journalist geworden und wollte der Aufklärung dienen und nicht dem Staat oder irgendwelchen Interessengruppen. Ja, so pathetisch dachten wir damals.
Warum pathetisch? Sie hatten recht!
MB: Na ja, wir waren geprägt von der Auseinandersetzung mit der Mitläufergeneration unserer Väter. Wir wollten die unendliche Schuld der Deutschen abtragen helfen, mindestens aber demokratische Verhältnisse etablieren; eine Hitlerei sollte nie mehr möglich sein.
‚Unabhängiger Journalismus’ ist doch nicht identisch mit einem Journalismus, dem es um nichts geht, oder?
MB: Henri Nannen hatte uns gelehrt, Journalisten in ‚Täter’ und ‚Merker’ zu unterscheiden. Die ‚Merker’ sollten die Realität beschreiben, so wie sie sich täglich offenbarte, aber sie sollten nicht erkennen lassen, wo sie selbst standen. Tageszeitungen und Nachrichtensendungen mussten und müssen so arbeiten; sie hätten sonst die Wirklichkeit verfälscht. Den ‚Merkern’ blieb für Meinung nur der extra ausgewiesene Kommentar.
Sie agierten lieber als ‚Täter’?
MB: Wir wollten über die Information hinaus Wirkung erzielen. Im Gegensatz zur Tageszeitung und den Nachrichtensendungen schien uns das als die Aufgabe kritischer Magazine. Dazu bedurfte es investigativer Recherche, einer gut zu lesenden Sprache und eines nacherzählbaren Stils. Ich hoffe, dafür lassen sich im Buch manche Beispiele finden. Eines davon war in meinen Augen die STERN-Titelgeschichte zu Leben und Wirken des Axel Cäsar Springer, über die Willi Winkler kürzlich in der Süddeutschen Zeitung schrieb, sie habe mehr ausgelöst, als mancher studentische Protest.
Haben Sie im Rückblick journalistisch je zu SPD-nah agiert?
MB: Ich war fasziniert von Willy Brandt, auch von der Tatsache, dass in dem so vorbelasteten Deutschland ein Emigrant Bundeskanzler werden konnte. Brandt war für mich ein Kämpfer; ihm habe ich Manches gut gerechnet, seinetwegen bin ich sogar in die SPD eingetreten; obwohl ich denke, Journalisten sollten in keiner Partei sein. Als Engholm ans Ruder kam und die ‚Godesberger Beschlüsse’ für ein verschärftes Asylrecht beschließen ließ, gab ich mein Parteibuch zurück.
Von Ihrem Freund Hajo Friedrichs, dem früheren Moderator der Tagesthemen, stammt das Diktum, Journalisten dürften sich nie mit einer Sache gemein machen…
MB: …für eine Sache kämpfen aber dürfen sie schon. Jedenfalls habe ich das immer wieder getan. Auch für das rot-grüne Projekt von Gerhard Schröder und Joschka Fischer. Ich war mit beiden befreundet und schätzte den Aufbruch, den sie unserem Land verordneten. Dazu stehe ich auch heute noch. SPD und Grüne wären im Übrigen noch an der Regierung, wenn sie sich konsequent hinter die „agenda 2010“ gestellt hätten, die Deutschland bis heute hilft, selbst schwerste internationale Wirtschaftskrisen durchzustehen.
Und wie hielten beziehungsweise halten Sie es mit dem Gebot der Objektivität?
MB: Es gibt keine Objektivität. Nirgendwo. Es gibt allenfalls den Willen dazu. Denn bei allen Themen – außer vielleicht in der Mathematik oder Physik – spielen Menschen eine Rolle, die dann, je nach Sozialisation, Bildung und Lebenswirklichkeit, aus unterschiedlichen Positionen heraus urteilen; ob als Berichterstatter, als Reporter oder als Kommentatoren. Es stimmt: Das Sein bestimmt das Bewusstsein. Insofern sorgte die damalige Konfrontation der großen Verlagshäuser mit ihren Zeitungen und Zeitschriften auch für ein Höchstmaß an Pluralität. Für mich war und ist diese Pluralität der Medien eine wesentliche Voraussetzung jeder demokratisch verfassten und organisierten Gesellschaft. Was heute bekanntlich selbst bei den Parteien verloren zu gehen droht. Die Unterscheidbarkeit der Inhalte und die streitbare Auseinandersetzung, vermisse ich viel zu oft auch bei den Medien. Es ist kein Unglück, wenn an einem Montag SPIEGEL und BILD in gleicher Tonlage singen. Wenn sie dies allerdings immer öfter und bei immer mehr Themen tun, kann es schnell zum journalistischen GAU werden. Im Moment erleben wir eine Rolle rückwärts. Der Fall Guttenberg hat für kurze Zeit die alten Fronten wieder hergestellt. Für die Leserinnen und Leser ein Gewinn.
Ein GAU mit dem Namen Propaganda, Gleichschaltung der Standpunkte? Woran denken Sie?
MB: Ich beobachte mit Missvergnügen die Neigung meinungsscharfer Medien in eine Richtung zu keilen. Als Gerhard Schröder bei BILD und SPIEGEL durch war, marschierten alle anderen wie die Lemminge in die gleiche Richtung.
Haben Sie nicht den Eindruck, schon jetzt bestimmt die „Bild“-Zeitung die Themen des Fernsehens eher als „Spiegel“ oder „Stern“?
MB: Nicht nur des Fernsehens, auch die der auflagenstarken Regionalblätter. Für die Tiefenschärfe allerdings bedarf es immer noch der Wochenblätter ZEIT, SPIEGEL und STERN.
Wie war das denn bei Ihrem eigenen Blatt, der „Woche“, die Sie gemeinsam mit Thomas Ganske gegründet haben?
MB: Es war zwischen dem Verleger und mir von Anfang an verabredet, dass DIE WOCHE angesichts des Mangels an kontroversen öffentlichen Auseinandersetzungen zu Grundsatzfragen (beispielsweise Religion, medizinischer Fortschritt, Einsatz der Bundeswehr und anderes) diese Debatten im Blatt selbst austragen wollte. Konsequent haben wir gelegentlich sogar die Titelseite für gegensätzliche Meinungen geräumt. Dafür wurden wir anfangs belächelt, heute machen es viele unserer damaligen Konkurrenten nach. Wie ja überhaupt DIE WOCHE stilbildend für den Zeitungsmarkt war. Viele der von uns kreierten Formen leben in anderen Blättern fort. Wir sind nicht ohne Grund vielfach preisgekrönt worden.
Fehlt „Die Woche“ dem journalistischen Deutschland?
MB: Eindeutig: Ja! Sie ist im Übrigen nicht an zu wenig Lesern gescheitert; es fehlten einfach die Anzeigen.
Aber wir waren ja noch bei der Pluralität.
MB: Richtig. Für mich ist Pluralität, wir können es zugespitzt auch Meinungskampf nennen, der Journalismus der Zukunft. Natürlich mit präzisen Fakten und bester Recherche. Die schreibende Zunft macht sich überflüssig, wenn sie immer nur dem Mainstream hinterher hechelt. Ihre Arbeit ist dann absehbar und somit überflüssig. Zu den wesentlichen Aufgaben eines Journalisten gehört es, im Zweifel zu polarisieren, um so zur Klärung beizutragen. Dazu gehört zuallererst eine eigene Haltung. Diese ist manchen Medien im Wettbewerb (auch um die Gunst von Anzeigenkunden) abhanden gekommen. Auch deshalb waren die 60er und 70er des vorigen Jahrhunderts Goldene Jahre für den Journalismus.
Auch deshalb müssen die Medien, die ja kaum mehr öffentliche Selbstkritik kennen, Thema dieses Buches sein?
MB: Mich haben die gerade beschriebenen Thesen immer wieder beschäftigt. Die Verantwortung der Medien wiegt schwer. Es sind die Inhalte, um die es geht und nicht die technischen Entwicklungen. Übrigens war DIE WOCHE die erste Zeitung, die eine feste Medienseite etabliert hat.
Man hört es raus, Sie trauern der „Woche“ nach.
MB: Nicht nur ich, auch viele Leserinnen und Leser. Ich werde häufig auf die Offenheit der WOCHE angesprochen. Wir wollten alles, nur keine Ideologen sein. Und bitte erlauben Sie noch einen persönlichen Satz: Für mich war DIE WOCHE die Erfüllung kühnster journalistischer Träume. Ich musste nicht – wie zuvor so oft – renovieren; ich durfte selbst ein Haus bauen. Dafür bin ich Thomas Ganske noch heute dankbar.
Sie haben sich hier vor allem als Journalist, auch als Meinungsbildner beschrieben. Was ist mit dem Renaissancemenschen Bissinger, dem Freund der Künstler von Horst Janssen bis zu Günter Grass? Das sind und waren doch keine spielerischen, sondern substantielle Verhältnisse.
MB: Ohne Kunst und Literatur wollte und könnte ich nicht leben. Ich war mit Vergnügen Chefredakteur des Kulturmagazins MERIAN, dessen Herausgeber ich auch heute noch bin. Maler, Schriftsteller, Regisseure sind in der Regel unangepasster, als die Mehrheit der Journalisten. Sie sind ehrlicher, wagemutiger, vor allem kreativer. Mir helfen sie immer wieder, den täglichen Kampf gegen die Anpassung zu bestehen.
Haben Sie Impulse aus dem künstlerischen Gespräch in die Politik getragen?
MB: Ich habe oft versucht, Politik und Kunst miteinander gesprächsfähig zu machen. Manches Mal mit erstaunlichem Ergebnis. Meinen Kanzlerfreund Gerhard Schröder musste ich nie agitieren. Er liebte schon früh die Kunst und es war kein Geheimnis, dass er einen Abend lieber mit Grass, Lenz, Lüpertz, Immendorf oder SEO verbrachte, als mit Funktionären aus dem Willy Brandt-Haus.
Hätte Bissinger nicht Kulturstaatsminister unter Schröder werden können?
MB: Ja, das wurde mir sogar zweimal angeboten. Aber ich wollte meine WOCHE nicht im Stich lassen.
Gerhard Schröder hätte Sie zumindest nicht als seinen „Kulturpudel“ bezeichnen können?
MB: Nein, von einem Pudel hab ich so gar nichts.
Lieber Manfred Bissinger, ist Ihnen klar, dass dieses Buch auch darüber mit entscheiden wird, wie Sie selbst künftig gesehen werden?
MB: Urteile über Menschen werden leicht nach einzelnen Ereignissen oder Erlebnissen gefällt. So wurde ich, der sich selbst als klassischen Linksliberalen bezeichnen würde, oft und gern als Oberlinker, gar als Kommunist, geschmäht. Nur weil ich manches nicht hinnehmen wollte oder gar verweigert habe. Dabei kämpfen in mir immer noch der Wert-Konservative, der nichts lieber als bewahren würde und der antiautoritäre Liberale, der sich seine Welt nicht ohne Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit vorstellen mag. Ich hoffe, dieses Buch spiegelt meinen lebenslangen inneren Konflikt wieder.
DAS BUCH:
Manfred Bissinger:
„Lauter Widerworte. Essays, Reportagen, Kommentare aus fünf Jahrzehnten.“
Hoffmann und Campe, September 2011.
304 Seiten, 24,99 Euro.
ISBN: 978-3-455-50206-0