Universalcode des Wandels

Mit der Ausbildung von Journalisten ist das so eine Sache: Niemand bestreitet (theoretisch) ihre Notwendigkeit. Kaum jemand zieht in Zweifel, dass sie in Zeiten des digitalen Umbruchs nötiger denn je ist. Dass es genau daran in der Praxis oft hapert, würde aber auch kaum jemand bestreiten wollen. Ein Blick auf den Büchermarkt zum Thema Journalismus im digitalen Zeitalter bestätigt das. Natürlich gibt es vereinzelt Bücher über Teilbereiche, ansonsten aber gilt: Wer Journalist werden oder sich als Journalist weiterbilden will, muss zu den üblichen Verdächtigen greifen. Standardbücher, deren Grundlagen irgendwann aus den Zeiten der 80er oder 90er Jahre stammen, die Digitalisierung und ihre weitreichenden Folgen für Medien und Journalisten aber naturgemäß kaum berücksichtigen.

Relevanz-Fragen

1995 ist das Jahr, in dem sich das Internet vom Insider-Thema für technisch Versierte wegentwickelte und mit AOL den Massenmarkt erreichte. Es ist auch das Jahr, ab dem, demnach Pionier „Spiegel Online“, immer mehr Medien ins Internet-Zeitalter aufbrachen. Und die Entwicklungen seit 1995 sind der Gradmesser, an dem sich die Themen eines neuen Ausbildungsbuches messen lassen sollten: Handwerkliches Grundlagenwissen wie die Kunst des Überschriftenformulierens, die fünf W-Fragen oder gute Interviewtechniken haben digital ebenso wie analog nach wie vor ihre Gültigkeit. Darüber gibt es genügend gute Standardliteratur – und der Anspruch des Buchs ist ja nicht, den Journalismus vollständig neu zu erfinden. Doch neue Formen des Journalismus sind hinzugekommen: Filmen für das Web, Audio-Reportagen mit dem Mobiltelefon, Recherche in sozialen Netzwerken, vernetztes Arbeiten mit Wikis und offenen Dokumenten im Netz. Dazu Themenfelder wie Datenjournalismus, Unternehmerjournalismus, Medienwandel, Crossmedia. Kurz gesagt: alles, was neu ist, an Kenntnissen und Fähigkeiten unerlässlich ist, was künftig an Relevanz gewinnen wird, sollte in diesem AusbildungsbuchPlatz finden.

Was also tun? Selbst ein Buch schreiben – das klingt zwar auf den ersten Blick naheliegend und einfach. Doch schon beim zweiten Blick wachsen die Zweifel: Kann man wirklich die enorm vielen Aspekte der Digitalisierung alleine beschreiben? Bekommt man es hin, dass neben ein paar theoretischen Betrachtungen vor allem auch praktische Handreichungen gegeben werden? Diese Gedanken standen zunächst im „Jakblog“ von Christian Jakubetz – und spätestens tags darauf stand fest, dass sich diese Fragen beantworten lassen. Fast 100 Mails gingen als Reaktion auf dieses erste öffentliche Nachdenken über ein solches Buch ein. Der Tenor der Zuschriften war einhellig: Ja, wir brauchen dieses Buch. Und viele fragten: Wie kann ich das Projekt unterstützen? Der Gedanke, der sich da plötzlich aufdrängte, war bestechend: Wenn man tatsächlich ein Buch macht und dabei viele offene Fragen hat, warum sollte man nicht einfach im laufenden Prozess bei denjenigen nachfragen, die das Buch später mal lesen sollen? Und wäre es nicht interessant, die gesamte Entstehung so transparent wie möglich zu machen, um sich dann im Fall der Fälle auch korrigieren zu können?

Digitale Teamarbeit

Zwei Aspekte standen also schnell fest. Zum einen: Es müssen viele Autoren sein, die man sich suchen muss, will man dieses komplexe Thema vernünftig abhandeln. Zum anderen: Blogs, Twitter, Facebook, alle Kanäle müssen bespielt werden, will man dieses virtuelle und doch reale Projekt am Leben erhalten, über die Fortschritte informieren und gemeinsam nach Lösungen für auftretende Probleme suchen.

Beides war einfacher als erwartet. Twitter, Facebook, Blogs, das gehört für die meisten „digitalen“ Journalisten ohnehin zum täglichen Handwerk. Und die Sache mit den Autoren war ebenfalls symptomatisch für den Journalismus neuerer Prägung. Man kennt sich eben, man hat sein digitales und virtuelles Netzwerk. Tatsächlich gibt es in diesem Bereich des digitalen „neuen Journalismus“ eine ganze Reihe hoch qualifizierter Journalisten, von denen die meisten für eine Mitarbeit am Buch (das bis dahin noch nicht mal einen Namen hatte) nicht sonderlich überredet werden mussten oder das gleich von sich aus anboten: Richard Gutjahr, Markus Hündgen und Daniel Fiene seien hier nur stellvertretend genannt. Aus Österreich kam Gerhard Rettenegger, Chefredakteur des ORF-Landestudio Salzburg, dazu. Und mit dem Chefredakteur der „Rhein-Zeitung“, Christian Lindner, und Heribert Prantl, Innenpolitikchef der „Süddeutschen“, ergänzen zudem zwei Kollegen das Autorenteam, die qua Position eigentlich aus der klassischen Zeitungswelt stammen.

Das Rekrutieren guter Autoren ging also erstaunlich schnell. Schon schwieriger: die Koordination eines Projektes mit Journalisten, deren Wohnsitze von Tel Aviv bis Salzburg reichen. Doch kollaboratives Arbeiten in digitalen Tagen ist ja nicht mehr so schwierig: Etliches an Daten und Terminen lief über „the cloud“, insgesamt gab es gerade mal zwei Autorentreffen, bei denen sich ein Teil der Beteiligten leibhaftig gegenüberstand. Ansonsten: Arbeit und Kommunikation, sowohl untereinander als auch extern, auf allen Kanälen. Es gibt nach wie vor eine eigene Seite bei Facebook, auf der sich bereits über 300 Leute über den aktuellen Stand der Dinge informieren lassen. Nahezu alle Beteiligten nutzten ihre Twitter-Feeds, daneben gibt es die Blogs der Autoren. Was im Übrigen auch ein schönes Beispiel für Reichweite und Relevanz im digitalen Zeitalter ist: Gemeinsam kommen die Autoren alleine bei Twitter auf rund 30.000 Follower, die Blogs der Autoren erreichen jeden Monat sechsstellige Abrufzahlen (zugegeben: Da gibt es natürlich Doppel-Leser).

Lieber Gedrucktes …

So oder so: Einfluss nahm diese Community von Anfang an auf das Buch – und das nicht zu wenig. So auch bei zwei ziemlich entscheidenden Fragen. Die eine betraf die äußere Form des Buchs: gedruckt oder elektronisch? Die andere war die nach einem Verlag: Eigenverlag, konventioneller Verlag, Print-on-Demand? Die Frage nach Print oder E-Book war sehr schnell und durchaus überraschend beantwortet: Bei aller Liebe zur Digitalisierung, die meisten möchten doch lieber etwas Gedrucktes in der Hand haben. Und zur Frage nach einem Verlag entstand ebenfalls über virtuelle Kontakte eine ebenso spannende wie innovative Lösung: Mit der noch sehr jungen Euryclia-Verlagsplattform in München fanden wir ein Modell auf Grundlage der Subskription. Das bedeutet: Euryclia stellt auf seiner Webseite regelmäßig neue Informationen oder Leseproben aus dem Buch bereit, Interessenten können bis zum Erscheinungstermin zu einem Sonderpreis vorbestellen. Damit haben alle Seiten Sicherheit: Der Verlag druckt, wenn genügend Interesse vorhanden ist. Die Autoren wissen, wie viele Bücher sie in etwa absetzen werden. Und für die Vorbesteller ist die Sache ohne Risiko. Bezahlt werden müssen die Bücher erst und nur bei Lieferung. Der Stand in der ersten Aprilwoche: 670 Vorbestellungen binnen zwei Monaten – damit ist das Erscheinen so gut wie gesichert.

… aber nicht ohne Website

Das generelle Problem von Büchern bleibt allerdings auch im digital-innovativen Zeitalter: Sie veralten mit Erscheinen. Deshalb, und weil viele Aspekte des Buches im Netz natürlich besser abgebildet werden können (Webvideos, Links, etc.) wird es auch eine Webseite zum Buch geben. Wie umfangreich diese Präsenz sein wird – ob eher begleitend zum Buch oder eher eine offene Plattform zum Journalismuswandel, ob es Premiumbereiche geben wird und wenn ja, welche – das sind Fragen, die im Herausgeber- und Autorenkollektiv noch intensiv diskutiert werden.

Medium:Online

Lesetipp: Ein Buch-Kapitel zum Thema crossmediales Arbeiten (Autor: Christian Jakubetz) ist exklusiv vorab zu lesen unter:

www.mediummagazin.de, magazin +

Erschienen in Ausgabe 04+05/2011 in der Rubrik „Medien“ auf Seite 60 bis 6
1 Autor/en: Ulrike Langer und Christian Jakubetz. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.