Virtuelles Lagerfeuer

Wenn man über den Wandel im Fernsehen nachdenkt, beginnt man als Erstes, an seiner Existenz zu zweifeln.

Das geht schon damit los, dass sich die gefühlte Wahrheit, dass früher alles besser war, empirisch nicht ganz so leicht beweisen lässt, wie man angenommen hatte. Wie das Fernsehen vor gut 25 Jahren war, lässt sich leicht herausfinden. Man muss sich dafür weder auf seine eigenen, mutmaßlich unzuverlässigen Erinnerungen verlassen noch die endlosen Weiten von Youtube durchstreifen, wo bald jeder Vorspann, jeder Trailer, jede Programmankündigungstafel aus dieser Zeit hochgeladen sein wird.

Man kann sich einfach DVDs ansehen wie die, die die Internetseite retro-tv.de seit kurzem gemeinsam mit dem ZDF herausgibt. Auf deren „Show Box“ findet sich unter anderem die erste Sendung von „Wetten, dass…?“ vom 14. Februar 1981, in der Moderator Frank Elstner alles Mögliche macht – das Publikum in Deutschland begrüßt, sich eigens den Zuschauern in Österreich vorstellt, sich bei den Schweizern entschuldigt, mit den Besuchern im Saal plaudert, die Spielregeln erklärt, mit der Technik hadert, am Telefonieren scheitert – bis überhaupt, nach über einer Stunde, die erste Wette gespielt wird.

Ungeahnte Parallelen

Das fühlt sich aus heutiger Sicht mit all den merkwürdigen Ritualen und Bemühtheiten zwar tatsächlich wie ein archäologischer Fund an. Aber im Ausmaß der Zeitverschwendung findet man nicht für möglich gehaltene Parallelen zum aktuellen Fernsehen. Anders als heute wurden Shows damals zwar noch nicht aus Kostengründen auf zwei bis drei Stunden aufgebläht. Aber aufgebläht, das waren sie.

Vielleicht sagt schon die bloße Existenz solcher DVDs fast genauso viel über das Fernsehen damals und seinen Wandel aus wie ihr Inhalt. Wird jemand in 25 Jahren Geld dafür ausgeben, sich Sendungen von heute noch einmal anzusehen? Natürlich ist es schwer vorherzusagen, auf welche Bestandteile der Gegenwart die Menschen in Zukunft einmal sentimental zurückblicken werden. Aber ist es vorstellbar, dass Menschen im Jahr 2036 zusammensitzen und ins Schwärmen kommen werden über die legendäre „Ultimative Chart-Show“ mit Oliver Geißen, und sich einen Nachfolger der DVD kaufen werden von einer Ausgabe „Das unglaubliche Quiz der Tiere“?

Eine Ursache für die Zweifel ist die Zersplitterung der Publika. „Wetten, dass…?“ hatte vor 25 Jahren regelmäßig über 20 Millionen Zuschauer – heute sind es nicht mehr die Hälfte, und selbst das ist noch eine Ausnahmeerscheinung im deutschen Fernsehen.

Dass sich wildfremde Menschen, die in den siebziger oder frühen achtziger Jahren aufgewachsen sind, spontan ganze Abende lang über Fernsehsendungen unterhalten können und sogar oft den Sendeplatz von „Biene Maja“ noch auswendig wissen, hängt vielleicht weniger mit deren Qualität zusammen als damit, dass es damals kaum Konkurrenz oder Alternativen gab.

Bedeutungswandel

Was sich mehr verändert hat als das Fernsehen, ist die Wahrnehmung des Fernsehens. Früher tat Fernsehen wichtig, wurde wichtig genommen und war wichtig. Anfang der siebziger Jahre konnte ein falsches Wort in einer Show oder eine Dokumentation von Horst Stern eine mittlere Staatskrise auslösen. Ausführlich wurde diskutiert, was das Fernsehen mit uns macht, welche pädagogischen Ziele es haben soll, nicht nur das Fernsehen für Kinder. Heute scheint auch das Publikum den alten Satz von Fernsehmachern verinnerlicht zu haben: Das versendet sich. Paradox formuliert: Es gibt viel zu viel Fernsehen, als dass man es wichtig nehmen könnte.

Das Fernsehen ist zu einem Nebenbeimedium geworden. Und das ist nicht nur eine Frage der Rezeption, sondern auch der Produktion. Abgesehen von einigen Spitzenproduktionen oder herausragenden amerikanischen Serien, die aber ihre Fans auch eher auf DVDs oder online finden als im linearen Fernsehen, sind weite Teile des Programms für ein Publikum gemacht, das ihm nicht seine volle Aufmerksamkeit schenkt: voller Redundanzen, Übertreibungen, Vereinfachungen.

Das ist nicht auf Unterhaltungsprogramme beschränkt. Auch in der Information findet sich ein Trend zur Infantilisierung, der sich mit dieser Zuschauerhaltung erklären lässt (wenn man nicht in den Chor derjenigen einstimmen will, die Fernsehen für das Medium der in jeder Hinsicht Minderbemittelten halten, wofür es wenig faktische Beweise gibt).

Mehr denn je ist Fernsehen auch ein Unterhaltungsmedium. Informationsbrocken werden entweder in Quiz- und Spielshows verpackt oder effekthascherisch und dröhnend präsentiert wie in der ZDF-Vorzeigereihe „Terra X“. Alles Geschichtliche findet seinen Weg ins (Haupt-)Programm fast ausschließlich nur noch über Ranking-Shows – von den Spartenkanälen mal abgesehen. Der Preis der leichten Konsumierbarkeit ist, dass jede Information atomisiert wird und die Dramaturgie der Hitparade das Erzählen in historischen Zusammenhängen ersetzt.

Fernseher-Motive

Dass sich das Fernsehen zum Nebenbeimedium entwickelt hat, ist ein realer Wandel – aber einer, der eher undramatisch wirkt verglichen mit all dem, was diesem Medium vorhergesagt wurde angesichts der digitalen Revolution. Zum einen wurde sein Niedergang und die Abwendung der Massen erwartet – tatsächlich haben die Menschen im vergangenen Jahr so viel Ferngesehen wie noch nie zuvor: im Schnitt 223 Minuten am Tag. Der Konsum nimmt in allen Altersgruppen zu, auch bei den Jüngeren. Den Großteil der Nutzung macht, natürlich, Unterhaltung aus. Andererseits wird als häufigstes Motiv fürs Fernsehen „sich informieren“ genannt.

Zum anderen gab es die Fantasien von der Entwicklung des Fernsehens zum interaktiven Medium, bei dem der Zuschauer ununterbrochen mit speziellen Fernbedienungen ins Programm eingreifen kann. Die großen Versuche damit sind längst gescheitert; die kleineren, die die Erzählebenen von Fernsehen und Internet verknüpfen wollen, laufen immer noch auf bescheidenem Niveau. Programmprägend (und umsatztreibend!) ist allein das Zuschauervotum mithilfe des altmodischen Telefonanrufs oder einer Kurznachricht geworden.

Nein, das faszinierende Phänomen ist nicht der Wandel, sondern wie wenig sich das Fernsehen in den vergangenen Jahren gewandelt hat.

TV-Erlebnis in Echtzeit

Symptomatisch dafür ist, wie erfolgreich eine Sendung wie die „Tagesschau“, in so vielerlei Hinsicht ein Anachronismus, nach wie vor ist. Dass man sich rund um die Uhr aktuell, selbstbestimmt und in jeder beliebigen Tiefe informieren kann, scheint bei vielen Menschen nicht das Bedürfnis zu mindern, sich zu einer festen Zeit Nachrichten anzusehen, die von anderen ausgewählt wurden und höchst begrenzten Umfang haben. Das Wissen, dass Millionen andere Menschen dies ebenfalls tun, wird dabei nicht ganz unbedeutend sein. Trotz aller Zersplitterung scheint das Fernsehen immer noch auch ein Medium zu sein, das die Funktion eines virtuellen Lagerfeuers erfüllt, an dem sich eine Gesellschaft versammelt.

Ironischerweise machen gerade moderne, digitale Kommunkationsformen wie Twitter oder Facebook diese immer noch vorhandene Bedeutung des Mediums Fernsehen in einer nie dagewesenen Weise sichtbar: Wenn ein TV-Event von einer gewaltigen Welle von Mitteilungen begleitet wird, die durchs Netz schwappt, und Fernsehen als ein soziales Ereignis erfahrbar macht.

Ein Gemeinschaftserlebnis war es auch früher schon, aber damals wurde das erst beim Gespräch am nächsten Tag auf dem Schulhof oder 25 Jahre später beim Schwelgen in Erinnerungen sichtbar. Dank Internet ist dieses Gemeinschaftserlebnis heute viel weniger virtuell. Zusammen fernsehen ist live geworden. Man vergleicht nicht mehr Erinnerungen, sondern Erlebnisse, in Echtzeit. Das ist ein Glück für das Medium und eine Chance – auch weil es den Machern die Möglichkeit gibt, Reaktionen auf ihre Programme zu verfolgen, die über die bloße Quote hinausgehen.

Das wa
r nicht abzusehen vor 25 Jahren, als die Privatsender begannen, das Fernsehen zu revolutionieren: Dass sich die Menschen in diesem Medium heute noch in einem solchen Maße nach Verlässlichkeit und Beständigkeit, nach festen Tagesabläufen und gemeinsamen Ritualen sehnen würden.

Symbolisiert wird das übrigens nicht nur durch Sendungen wie endlos laufende tägliche Seifenopern, sondern auch durch einen Mann, der einen wesentlichen Anteil am Erfolg der Nachrichten von RTL hat: Peter Kloeppel moderiert sie seit fast zwanzig Jahren.

Erschienen in Ausgabe 04+05/2011 in der Rubrik „Medien“ auf Seite 50 bis 51 Autor/en: Stefan Niggemeier. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.