Die Kugel im Kopf gilt dem Falschen

Dass Politiker ihre Probleme mit der Enthüllungsplattform Wikileaks haben, ist nachvollziehbar. Immerhin wissen wir jetzt, wie der eine Politiker im Range eines Chefdiplomaten andere Politiker sieht: als „unberechenbar“ (Seehofer), „schräge Wahl“ (Niebel) oder „risikoscheu“ (Merkel). Gnadenloser arbeitete „GuttenPlag“. Das Fallbeil der Netz-Guillotine war bereits entsichert, als der Freiherr noch an die wundersame Fügung glaubte.

Dass auch Journalisten, die das Mantra der umfassenden Information als Job-Legitimation vor sich hertragen, einen dicken Hals durch das Wikiweb bekommen, verwundert da schon eher. Offensichtlich fürchtet man die mächtige und noch ungewohnte Konkurrenz im eigenen Enthüllungsgeschäft, wie die harsche Reaktion zeigt: Als „kriminelle Vereinigung“ verunglimpfte die „Washington Post“ die Plattformjünger um Julian Assange. Die „Süddeutsche“ sieht durch Wikileaks sogar „Menschen gefährdet“. Und ein zu Recht unbekannter amerikanischer Radiokommentator brachte es zu zweifelhafter Berühmtheit, weil er Assange am liebsten „an einer Bleivergiftung“ sterben sehen will, „und zwar durch eine Kugel in den Kopf“. Ein Wirrkopf, die Kugel würde doch dem Falschen gelten. Assange enthüllt nur, was er erfährt. Journalisten übrigens auch.

Und trotzdem wird Wikileaks – und mit dieser Plattform die geballte Schwarmintelligenz im Netz – die Welt verändern, auch die der Journalisten und Kommunikationsexperten. In Politik und Wirtschaft wird man zwangsläufig vorsichtiger mit geheimen Informationen umgehen und Berichtsabläufe überprüfen. Vertrauliche Botschaften per E-mail werden künftig ausschließlich an die Vertrauten gehen und nicht mehr in Kopie an zehn oder 20 weitere Adressaten. Und logischerweise wird sich auch die Sprache der veränderten Situation anpassen. Abfällige Formulierungen in geheimen Depeschen wird sich niemand mehr erlauben.

Die Zeiten unbekümmerter und geschwätziger Mitteilsamkeit sind jedenfalls vorbei. Und dort, wo dies nicht der Fall ist, droht die Sanktion des Prangers. Krisenkommunikation wird darauf vorbereitet sein müssen. Schließlich stellt totale Transparenz jeden PR-Manager vor völlig neue Herausforderungen, weil er in alle relevanten Entscheidungen eingebunden werden muss, um warnend den Finger heben zu können. Nachträgliche Korrekturen laufen ins Leere. Das Netz hat seine eigene Logik.

Die entscheidende Konsequenz reicht aber weiter: Jegliches Handeln und Tun wird sich vermehrt um ethische Normen bemühen müssen.

Korruption, Schmiergeldzahlungen und versteckte Rechtsbrüche werden entschlossener unterbunden werden müssen, weil die Veröffentlichung einer Hinrichtung gleichkommt. Transparenz hilft gegen Ungerechtigkeit und Missbrauch.

Alle Macht also der totalen Transparenz?

Das wäre das Ende jeder zivilisatorischen Existenz, die Selbstauflösung funktionierender Gemeinwesen. Eine deutsche Wiedervereinigung hätte es nie gegeben, wenn der geheime Austausch von Kohl, Genscher und Gorbatschow öffentlich geworden wäre. Und auch DAX-Unternehmen wären morgen lahmgelegt, wenn ihre Vorstandssitzungen live und in Farbe über das Internet übertragen würden.

Und dennoch: Dass Menschen gerne durchs Schlüsselloch schauen wollen, wird sich nicht ändern. Neugierde ist ein Überlebenstrieb. Das Schwert wird erst dann stumpf, wenn immer neue Enthüllungen langweilen.

Transparenz ist kein Wert an sich. Es muss immer auch gefragt werden, wozu sie dienen soll. An diese Grenze wird Wikileaks zwangsläufig stoßen. Und auch Journalisten, wenn der Informantenschutz auf dem Spiel steht. Totale Transparenz enthüllt irgendwann auch die geheimen Quellen.

Der karibische Romanschriftsteller Edouard Glissant klagte in einem seiner Bücher das „Menschenrecht auf Undurchsichtigkeit“ ein. Zu Recht: Das Leben wird furchtbar, wenn es überall durchsichtig ist, wenn es keine Geheimnisse mehr gibt.

Pragmatischer urteilt der Publizist Roger Willemsen: „Der permanente Aufdecker, der stets mit dem Nimbus des Wahrheitsvermittlers daherkommt, ist eine Nervensäge.“

Und Nervensägen gehen den Leuten zuweilen mächtig auf den Geist.

Erschienen in Ausgabe 03/2011 in der Rubrik „Rubriken“ auf Seite 66 bis 66 Autor/en: Anton Hunger. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.