Als die ersten Bilder von den Demonstranten im Fernsehen auftauchen, die den Tahrir-Platz besetzen, denke ich: „Typisch ägyptisch.“ Dem Klischee gehorchend. „Die Demonstranten werden zwei, drei Tage lang alles kurz und klein schlagen, ihrer Wut Luft verschaffen und dann wieder klein beigeben.Wie schon immer.“ Meine typisch deutsche Reaktion, wie die vieler Korrespondenten vor Ort. Ich erinnere mich an den 27. Januar 1977, den Tag der berühmten „Brotunruhen“. Zehntausende Kairoer hatten sich damals wütend auf den Tahrir-Platz gestürzt und Sadat in die Krise gerissen. Mit Hilfe der Panzer und der Armee war aber vor 34 Jahren in wenigen Tagen die Stabilisierung des Regimes gelungen. Die Armee blieb immer Sieger. Auch später. Ägypten, das war seit 1952 der institutionalisierte Militärputsch. Eine solche Chronologie lässt den Blickwinkel erstarren.
Doch diesmal ist alles ganz anders
Die Demonstranten bleiben und sie sind auch noch friedlich und entschlossen.Überraschend auch das Verhalten der Armee. Sie besetzt die Stadt, bleibt aber auch friedlich. Eine Revolution – ich hatte sie schlicht für unmöglich gehalten. Da ging es mir wie vielen Politikern, Nahostexperten und anderen Journalisten. Auch Volkhard Windfuhr vom „Spiegel“, der in Kairo lebt, bekennt ganz offen, nichts gemerkt zu haben: „Geschichte, wenn sie sich vor unseren Augen ereignet, macht bescheiden.“
Vielleicht liegt es daran, dass der Aufstand von Kairo eben nicht zu den Klischees passt, die wir von Arabern und Ägyptern haben. Klischees sind, auch bei Korrespondenten, meist stärker als die Wirklichkeit. Ägypten, das ist 1001 Nacht. Exotisch, wenn wir es gut meinen, ein Land der Bauchtänzerinnen,der Basare und Wasserpfeifen. Den meisten hierzulande ist dieses neue, demokratisch aufbegehrende Ägypten eher unheimlich. Mit ihrem, durch die Berichterstattung geprägten Tunnelblick, sehen sie in der arabischen Welt vor allem Chaoten am Werk, Terroristen, Bombenleger, verschlagene Orientalen, die unzuverlässig und allzeit bereit sind die westliche Welt zu unterwandern und die Europäer unter das Joch der Scharia zu zwingen. Die islamistischen Terroristen mit ihren Selbstmordattentaten und die Islamkritiker hierzulande haben diese explosive Stimmung herbeigebombt und wir, die Journalisten, haben sie herbeigeschrieben. Die hitzigen Ägypter brauchen halt eine harte Hand. Sonst droht das Chaos oder noch schlimmer – der islamische Gottestaat. So denken viele im Westen, und leider auch viele Auslandskorrespondenten.
Aber auf den Bildschirmen sind plötzlich ganz andere Ägypter zu sehen: entspannte junge Leute, Blogger, Rapper und Facebook-Aktivisten. Sie fordern Arbeitsplätze, das Ende der Korruption, ganz vernünftige Dinge. Keinen Gottesstaat, nicht die Vernichtung Israels, sondern ganz schlicht Demokratie. Andere skandieren: „Kefaya!“ Es ist genug! Und das auch noch gewaltfrei. Unerhörte Töne, die alle bisher gekannten Vorstellungen über Ägypten durcheinanderwirbeln. Der alte Orient mit seinen Kamelen und Diktatoren ist plötzlich obsolet.
Statt sich mit den Protagonisten dieses neuen Ägyptens zu beschäftigen, kramen die westlichen Medien jedoch die Moslembrüder aus ihren Archiven. Die sind das Schreckgespenst, das Mubarak stets an die Wand gemalt hat, wenn westliche Kritik an seinem System laut wurde. Die angebliche Gefahr eines Gottesstaates. „Kann der Islam Freiheit?“, fragt der „Focus“ zweifelnd und stellvertretend für andere Medien. Dieses Schreckgespenst Moslembruderschaft hat kein Korrespondent je richtig recherchiert und in seiner Bedeutung dargestellt. War auch schwierig, weil die „Ichwan al Muslimun“ in einem halblegalen Schattenreich operieren und sich wie eine Geheimloge verhalten. Unsere Medien scheinen sich nicht wirklich für die Demokratiebewegung zu interessieren. Sie begreifen nicht ganz die politische Brisanz des Aufstandes. Gezielte Ablenkmanöver, wie der al-Qaida-Anschlag am koptischen Weihnachtstag, werden als aufflammender Religionskrieg interpretiert. Doch jetzt demonstrieren Moslems und Christen gemeinsam auf dem Tahrir-Platz. Eine krachende Niederlage für die Terroristen. Das Washington Institute for Near East Policy hat kürzlich eine Umfrage in Kairo gemacht und Erstaunliches zu Tage gefördert: Nur 15 Prozent der befragten Ägypter zeigen Sympathie für die geheimnisumwitterten Moslembrüder. Das ist noch keine Entzauberung der religiösen Hardliner, aber eine ernüchternde Erkenntnis.
Zu schön, um wahr zu sein?
Der Okzident sucht verzweifelt Orientierung in einer unsicher gewordenen Welt, während der Orient von einer Welle des Wandels heimgesucht wird. Dabei wird uns der zur Demokratie strebende Nahe Osten zunächst immer fremder, weil die Araber plötzlich nicht mehr als Exoten auftreten und etwas ganz Selbstverständliches fordern: ein anständiges Leben in Würde und Demokratie.
Das ist, für die in Ritualen denkenden westlichen Medien, zu schön, um wahr zu sein. Das überfordert alte Denkmuster. Der neue Nahe Osten macht richtig Stress. Deshalb kommt der wirre Muammar al-Gaddafi gerade recht. Das Regime, das bizarrste Beispiel orientalischer Despotie, inszeniert seinen Abgang von der Weltbühne als blutrünstiges Gewaltdrama. Und wieder denkt so mancher insgeheim: So sind sie halt, die Araber.
Ulrich Kienzle (75) war u. a. von 1974 bis 1980 ARD-Korrespondent für Arabien und das südliche Afrika, von 1980 bis 1990 Chefredakteur bei Radio Bremen, anschließend beim ZDF Leiter der Außenpolitik, Moderator des „auslandsjournal“ sowie Leiter und Moderator des Magazins „Frontal“ . Er reist bis heute regelmäßig nach Nahost, zuletzt im Dezember 2010. Kienzle spricht Arabisch.
Erschienen in Ausgabe 03/2011 in der Rubrik „Medien“ auf Seite 25 bis 25. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.