Redigier-Praxis: Bitte mit Feile statt Meißel!

Wenn Redaktionen Freien-Texte wie Rohware behandeln, werden die Artikel selten besser, findet Eckhard Stengel. Viele Fehler wären vermeidbar, wenn die Absprachen besser funktionieren würden. Ein Plädoyer für mehr Sorgfalt und Respekt im Umgang mit Autorentexten.

Was wäre, wenn es keine redigierenden Journalisten gäbe, fragte neulich die „Zeit“-Textchefin ihre Leserschaft. Dann, so antwortete sie selbst, bekäme das Publikum nur „Rohware“ vorgesetzt. Erst die Redaktion verhelfe den Texten von Autoren und Reportern „zu ihrer druck- oder sendefähigen Perfektion“.
Schön wär’s. Seit über 30 Jahren schreibe ich als freier Korrespondent für diverse Zeitungen, und nach jedem Produktionstag frage ich mich bei der Morgenlektüre: Welche Patzer haben sie diesmal eingebaut?
Zum Glück gibt es Redaktionsmitglieder, die ganz sensibel mit der Feile arbeiten. Aber andere greifen zu Hammer und Meißel. Mal kürzen sie sinnentstellend, mal verlängern sie meine Texte und bauen dabei Fehler ein. Meine Sammlung solcher Verschlimmbesserungen ist inzwischen so dick wie zwei Telefonbücher.

Eine typische Panne: Die Redaktion kürzt nur halbherzig. Sie lässt einen „zwar“-Satz stehen, streicht jedoch die folgende „aber“-Passage. Oft stimmen auch die Anschlüsse nicht mehr: „X bestreitet das.“ Was er bestreitet, bleibt im Dunkeln, denn es wurde vorher weggekürzt. Womöglich entsteht sogar der falsche Eindruck, dass X etwas abstreitet, was in dem Absatz vor der gestrichenen Passage steht und gar nichts mit seinem Dementi zu tun hat.
Gern gelöscht werden Relativierungen wie „eventuell“, „womöglich“ oder „fast“. Einmal war unter meinem Kürzel zu lesen, Bremen wolle „alle Freibäder schließen“. Zum Glück waren es nur fast alle.
Ein Wort weggekürzt, und schon klingt eine Aussage absurd: „Wie viel verdienen die Neuen? Bis zu 30 Prozent“, stand in der Druckfassung eines Artikels über neu eingestellte Leiharbeiter, die schlechter entlohnt werden als die Stammbelegschaft. Das Manuskript enthielt ein Wort mehr: „Wie viel weniger verdienen die Neuen?“

Noch heikler als Kürzungen sind unabgesprochene Ergänzungen. Da hat jemand irgendwo etwas gelesen oder gehört und schreibt es ungeprüft in meine Vorlage hinein. Etwa, dass die Kanzlerin den neuen Tiefwasserhafen Jade-Weser-Port (JWP) einweihen wolle. Das hatte eine überregionale Zeitung behauptet, bevor ich selber ein Feature über den JWP schrieb. Gern hätte ich diese Information übernommen, aber vorsichtshalber fragte ich beim Bundespresseamt nach. Dort wusste niemand etwas von einem Merkel-Termin beim JWP, und ich ließ diesen Aspekt natürlich weg. Doch bei einer großen Regionalzeitung wird offenbar auch das überregionale Blatt studiert. Jedenfalls baute die Redaktion den imaginären Merkel-Auftritt ohne Absprache in mein Feature ein.
In dem überregionalen Blatt stand auch, dass Deutschland mit dem besonders tiefen Hafen „Anschluss an die neuen Dimensionen des internationalen Schiffstransports“ erhalte. Die Regionalzeitung übernahm das mit leichten Kürzungen: Deutschland erhalte mit dem JWP „Anschluss an den internationalen Schiffstransport“. Aha, bisher kamen die Container aus China wohl per Lkw. Und dazu die Überschrift: „Deutschlands größte Baustelle“ – wieder knapp daneben, denn da gibt es größere. Auf meine Beschwerde meinte eine Redakteurin, dieser Superlativ „geistert ja schon seit längerem durch die Medien“. Dann muss er ja stimmen – Journalismus als Stille Post.

Bei Überschriften patzen auch andere Redaktionen. 2007 konnte ich Günter Grass kurz zum Ex-Guantanamo-Häftling Murat Kurnaz befragen. Rot-Grün ließ den Bremer Türken damals im Lager versauern und stand deshalb unter Beschuss. Grass kritisierte die Kritiker. (Korrektur:) Die einstige rot-grüne Bundesregierung hatte den Bremer Türken jahrelang im Lager versauern lassen und stand deshalb auch nachträglich noch unter Beschuss. Grass kritisierte die Rot-Grün-Kritiker. Am nächsten Tag titelte einer meiner Kunden: „Grass kritisiert Rot-Grün“. Die einstige Bremer Ampelkoalition bewertete ich mal mit den Worten: „Alles in allem war die bisherige Inszenierung keine Glanzleistung, sondern manchmal ein peinliches Laienspiel.“ Der Artikel erschien unter der Überschrift: „Durchaus kein peinliches Laienspiel“.
Bei einem anderen Thema erdichtete eine Zeitung den Zwischentitel: „Wird die Nachwahl angefechtet?“ Darauf ein Leserbriefschreiber: „Es hat mich umgehaut“

„Nicht mal Zitate sind heilig: Ein Strahlenexperte sprach einst von Atomanlagen, „die hochversifft sind“. Das war einer Redaktion wohl zu umgangssprachlich. Sie machte daraus „hochverseucht“, was ihr zum Glück keine Gegendarstellung einbrachte. Selbst in Reportagen darf man dem Volk nicht immer aufs Maul schauen. Die wörtliche Rede „nur noch was“ wird dann zu „lediglich noch etwas“ – als ob Menschen spontan so hölzern reden würden. Oft wurden auch schon meine eigenen Formulierungen in Anführungsstriche gesetzt, als stammten sie von Gesprächspartnern – oder umgekehrt.

Und dann die vielen falschen Begriffe! Ein Dorf wird zu einem „Städtchen“ ernannt, ein SPD-Unterbezirk zu einem „SPD-Bezirk“ aufgeblasen. Sogar die Maßeinheit „Pikogramm (ein Billionstel Gramm)“ übersteht das Redigat nicht unversehrt – für die Leser wird daraus „ein Millionstel Gramm“. Dass das Parlament in Bremen „Bürgerschaft“ heißt und die Regierung „Senat“, muss ein auswärtiger Redakteur nicht unbedingt wissen; aber dann sollte er doch bitte die Finger davon lassen, statt mir einen falschen Begriff unterzuschieben. Und wer eine Geldbuße mit einer Geldstrafe verwechselt oder eine Zivilklage als „Anklage“ bezeichnet, müsste eigentlich mit Zwangslektüre der „Neuen Juristischen Wochenschrift“ nicht unter zwei Jahren bestraft werden. Nur weil etwas ähnlich klingt, ist es schließlich nicht dasselbe – siehe Bundestag und Bundesrat.

Achtung übrigens, wenn jemand Kommentare von mir liest: Gut möglich, dass da Einschätzungen stehen, von denen ich bisher nicht wusste, dass ich sie teile. (Anmerk. der Redaktion: Dieser Kommentar ist abgesprochen!).

Nette Überraschungen erlebe ich auch, wenn ein fast nur aus Agenturmaterial bestehender Text unter meinem Namen läuft. Oder wenn Redakteure sorglos Daten aus Agenturmeldungen einbauen, die meinen Angaben widersprechen. Da wird dann innerhalb desselben Beitrags eine Firmenbelegschaft mal mit 6.000 und mal mit 5.700 Beschäftigten angegeben, und der JWP-Kai wächst zwischen Artikel und Bildunterschrift schlagartig von 1,7 auf 1,8 Kilometer.
Manchmal passiert es auch, dass eine gut abgehangene Geschichte ohne Aktualisierung aus dem Stehsatz geholt wird. So brauchte ein Feature über Missstände in einem Behindertenheim volle neun Monate, bis es das Licht der Welt erblickte. Darin fand sich auch meine Originalformulierung: „Doch getan hat sich bis heute nichts.“ Ein bisschen hatte sich mittlerweile doch getan: Der im Artikel namentlich erwähnte Sozialminister hatte sein Amt längst an einen Nachfolger abgegeben.

Viele Redigierfehler lassen sich mit Zeitdruck und Personalmangel erklären. Doch wenn sich Redaktionen die Muße nehmen, Manuskripte selber zu verlängern oder kräftig umzuschreiben, sollte auch noch soviel Zeit bleiben, kurz mit dem Verfasser zu telefonieren oder ihm die redigierte Endfassung zum Gegenlesen zu mailen. Aber nicht nur gestresste Tageszeitungsleute gehen teils nachlässig mit Manuskripten um. Ein Kollege der „Zeit“-Textchefin wollte mal aus „Vokalmusik“ platte „Volksmusik“ machen. So veredelt man Rohware.

Was könnten Redaktionen tun? Zum Beispiel uns Autorinnen und Autoren bitten, Manuskripte selber auf die richtige Länge zu bringen. Und etwas mehr Respekt vor unseren Fachkenntnissen und unserem persönlichen Stil entwickeln. Wir machen leider schon genug eigene Fehler (die oft unredigiert gedruckt werden, weil nur für Insider zu erkennen). Da wollen wir nicht auch noch für Redigierpannen unsere Namen hergeben.

Die Rechtslage
Streng genommen, dürften Redaktionen fast gar nichts an den Geschichten ihrer Autoren eigenmächtig, d.h. ohne Absprache ändern, jedenfalls wenn es sich um „persönliche geistige Schöpfungen“ und nicht bloß um Wasserstandsmeldungen handelt. Nach § 14 des Urheberrechtsgesetzes (UrhG) hat der Verfasser „das Recht, eine Entstellung oder eine andere Beeinträchtigung seines Werkes zu verbieten, die geeignet ist, seine berechtigten geistigen oder persönlichen Interessen am Werk zu gefährden“. Und das hat Folgen: „Auch die ‚Verbesserung’ eines Werkes des Neulings durch den Meister kann eine Entstellung zur Folge haben“, schrieb der Jurist Ringo Krause schon 2008 in einem Kommentar zum UrhG, als ob er damals bereits geahnt hätte, was 2012 die „Zeit“-Textchefin zum Thema Rohware-Veredelung schreiben würde. Eindeutig ist auch der Wortlaut von § 23 UrhG: „Bearbeitungen oder andere Umgestaltungen des Werkes dürfen nur mit Einwilligung des Urhebers (…) veröffentlicht oder verwertet werden“ – es sei denn, „der Nutzungszweck macht bestimmte Änderungen unumgänglich“, wie das Landgericht Hamburg 2010 in seinem viel beachteten, aber noch nicht rechtskräftigen Urteil gegen die Zeitschrift „Geo“ schrieb (Az.: 308 O 78/10). Kisch-Preisträger Christian Jungblut hatte damals mit Erfolg gegen massive Textänderungen der Redaktion geklagt.
Aber so weit muss es ja nicht kommen, wenn Redaktionen auf Augenhöhe mit ihren Autoren zusammenarbeiten und sich gemeinsam um gute journalistische Qualität bemühen. (stg)

Der Autor

ECKHARD STENGEL (57) ist freier Bremen-Korrespondent für etliche große Tageszeitungen, schreibt auch für Zeitschriften, sitzt für die DJU im Deutschen Presserat und arbeitet nebenbei als Dozent für verständliches Schreiben an der Universität Bremen und am Niedersächsischen Studieninstitut für kommunale Verwaltung.

Tipp

siehe zum Thema auch:

> DerStandpunkt“ von Eckhard Stengel im aktuellen „medium magazin“ 7-8/2012 (Printversion).
> Im „medium magazin“ Archiv: eine Umfrage zum Thema Redigieren aber wie?
> Unsere Journalisten-WERKSTATT: „Richtig redigieren“ von Peter Linden / Christian Bleher / Steffen Sommer, 16 Seiten, 4,99 Euro zzgl. Versand

Bezug: über www.newsroom.de/shop ; per mail vertrieb@mediummagazin.de,