Die Kunst der Reportage
Hania Luczak, Redakteurin bei „Geo“ und Gewinnerin des Henri-Nannen-Preises 2010 in der Kategorie Reportage (Egon-Erwin-Kisch-Preis) über ihre Arbeit, psychische Grenzerfahrungen und den preisgekrönten Beitrag „Ein neuer Bauch für Lenie“(PDF AUS Geo 10/2009), siehe auch mediummagazin 6-2010)
Interview: DANIEL KASTNER
Bei der Verleihung des Henri-Nannen-Preises haben Sie gesagt, Sie hätten sich gewünscht, dass man eine andere Passage als den Anfang Ihres Textes vorgelesen hätte. Warum?
Die Anfangspassage, die vorgelesen wurde, führt sehr leise und sachte ins Thema – erst später gewinnt der Text an Fahrt und die darin beschriebenen Ereignisse spitzen sich dramatisch zu. Jede Autorin wünscht sich wahrscheinlich, dass Passagen vorgelesen werden, auf die sie stolz ist. Gerade bei einem Text, der an vielen Stellen nicht gerade leicht verdauliche Kost bietet – wenn man dieses Bild bei einem Text über den menschlichen Darm benutzen kann. Natürlich hätte ich sprachlich gern, nun ja, mitgehalten mit den wunderbaren, schillernden, sprachgewaltigen Texten von Frau Rückert und Herrn Osang. Aber wenn man bei der Arbeit zum Zeugen eines Kampfes über Leben und Tod wird, gibt es meiner Meinung nach nur einen Weg, damit umzugehen: Schlichtheit. Sonst wäre mir der Text entglitten. Manchmal ist einfach jeder Schnörkel, jede Spielerei überzogen und schadet der Eindringlichkeit.
Der Kisch-Preis für eine wissenschaftliche Reportage ist ungewöhnlich…
Das stimmt: Was ich dem Leser zumute, ist keine süffige Reportage. Da sind auch schwere Verständnispassagen dabei, die bis in die molekulare Zusammensetzung der menschlichen Ausscheidungen führen. Mir sind diese erklärenden Passagen aber wichtig. Meiner Meinung nach sollte eine wirklich gute Reportage immer auch aufklären, neue Erkenntnisse liefern. Man sollte sich als Journalist nie vor diesen komplizierten Zusammenhängen drücken, die einen Text allerdings ganz schön zerreißen können. Andererseits: Wenn man es schafft, solche Passagen einigermaßen elegant in die erzählte Geschichte einzuflechten, gewinnen die Texte an Tiefe. Die verschiedenen Ebenen zu verflechten – das muss ich mir bisweilen hart erkämpfen.
Wie machen Sie das?
Sich die Erkenntnisebene zu erarbeiten, ist bisweilen zermürbend – Sie müssen die wichtigste Fachliteratur lesen. Da nimmt ein Journalist gern Reißaus, weil man bisweilen jedes dritte Wort nicht versteht. Mit der Hilfe von Fachwörterbüchern und Internet muss man erst mal den Fachjargon einigermaßen durchdringen, um Sicherheit zu gewinnen, um bei den Recherchen folgen zu können. Manches mag mir als Naturwissenschaftlerin leichter fallen, aber jede Wissenschaft oder Disziplin hat ihre ganz eigene Sprache. Davor darf man sich nicht abschrecken lassen.
Aber vor allem die menschliche Ebene kann bei der Recherche zu einer Art Kampf mit sich selbst geraten. Einerseits müssen Sie versuchen, das Gegenüber, das in großer existenzieller Not ist, aufzunehmen, zuzulassen, ja, zu umarmen. Und gleichzeitig müssen Sie immer auf der Hut sein, sich nicht zu verlieren in der Not des Anderen, müssen professionelle Distanz üben – nach vielen Monaten mit den Protagonisten wird es häufig schwierig, denn Zeit und Leid schweißen zusammen. Gerade in intimsten Situationen ist man als journalistischer Zeuge nicht selten hin und her gerissen zwischen respektvoller Zurückhaltung und gnadenloser professioneller Neugier. Wenn Sie zwischen diesen Impulsen die Balance nicht schaffen, verlieren Sie Ihren Gesprächspartner.
Wie halten Sie die Balance?
Ich nehme zum Beispiel in solch knifflige Gespräche und Recherchen nie ein Tonband mit. Schon dieses kleine Gerät stört. Lässt den Menschen nicht vergessen, dass sein Gegenüber eine Journalistin ist, nimmt der Situation „Echtheit“ – und mag es nur ein Quäntchen sein. Wirklich wichtige Szenen brennen sich ohnehin ein – wenn wir offen sind und mit unserem Gegenüber mitschwingen. Es genügt völlig, sich anschließend nur eine Minute Zeit zu nehmen und ein oder zwei Stichwörter aufzuschreiben. Dann haben Sie das „geistig“ im Block – auch wenn es noch nicht notiert ist. Und wenn ich dem Protagonisten danach den Text vorlege und der sagt: „Genau so war es“, dann weiß ich: Da bin ich wirklich mit all meinen Sinnen dabei gewesen.
Wie sind Sie eigentlich auf das Thema gekommen? Woran erkennen Sie, dass eine Geschichte eine Geschichte ist?
Ich habe vor einigen Jahren einen Artikel über mögliche Darmtransplantationen in einem Fachmagazin gelesen und mich gefragt: Aha, so etwas gibt es? Spannend! Wenn ich als Journalistin das nicht weiß – ja, wer soll es denn dann wissen? Auf sein inneres Ausrufezeichen hören – das ist wichtig.
Und wie lang war der Weg von der Idee bis zu den Protagonisten?
Es war mühsam – ein Marsch durch die Hierarchien einer Universitätsklinik, in der sie für Monate auf die Hilfe vieler Menschen angewiesen sind. Vom Direktor bis zur Pflegedienstleitung, vom Stationsarzt bis zur Stationsschwester. Allein die Vorbereitung für diese Geschichte dauerte ein halbes Jahr – bis sie vor dem ersten Patienten sitzen. Sie müssen ein Geflecht von Empfindlichkeiten durchdringen, immer wieder Vertrauen gewinnen – und erhalten. Man kann das schon eine psychische Fronterfahrung nennen. Das geht sehr an die Substanz, und deshalb mache ich bisweilen einen weiten Bogen um solche Geschichten.
Verbünden Sie sich mit Ihren Protagonisten?
Das müssen Sie, sonst verlieren Sie sie. Es klingt vielleicht kindlich, aber mit der Zeit wirkt man für einige der Betroffenen als Maskottchen. Manchmal bitten mich meine Protagonisten sogar um Hilfe. Da gerät man in einen schwierigen Sog.
Wo ziehen Sie die Grenze?
Ich gebe Ihnen ein Beispiel: In einem Fall bat mich eine Mutter, Druck zu machen, Prominente zu mobilisieren, zu recherchieren, warum es so lange keine Organe für ihr todkrankes Kind gibt. Ich habe versucht, der Mutter so weit wie möglich zur Seite zu stehen, aber ich kann, darf und will nicht darüber entscheiden, wohin welche Organe kommen. Bei aller Nähe und Hochachtung vor der Mutter muss ich mich da zurücknehmen, ohne sie zu verletzen. Anderenfalls hätte ich die Übersicht verloren.
Das erinnert an das Dilemma, in dem Kriegs- und Katastrophenreporter stecken…
Ganz genau. Ich greife sofort ein, wenn es wirklich sinnvoll ist – das täte auch jeder Kriegsjournalist, wenn ein Kind neben ihm verletzt worden wäre. Aber er würde nicht selbst zur Waffe greifen.
Sie haben auf dem OP-Tisch das Rückgrat eines Patienten in der leeren Bauchhöhle gesehen. Sie sind womöglich die einzige Kollegin, die im Wortsinne schon einmal so tief in einen Menschen hineingeschaut hat…
Ja, solche Einblicke können einen ganz schön bewegen. Ich stand am Kopf des Patienten, den ich mittlerweile gut kannte, und musste wie die Ärzte versuchen, das Individuum zu vergessen. Ich konzentrierte mich regelrecht auf die tiefe, schauerliche Wunde. Ich hielt mich sozusagen am professionellen Interesse fest und überlegte, wie man diese Wunde beschreiben könnte. Ich fragte die Ärzte: „Gibt es eigentlich größere Wunden?“ Da lachten sie. Das war auch befreiend für mich – weil mich die Wucht der Situation nicht mehr übermannen konnte.
Sie haben im OP mit den Ärzten gesprochen? Geht das?
Ja, natürlich, sonst verstehen Sie ja die Vorgänge nicht. Die Zitate aus den OP-Szenen sind während der Operation gefallen. Es herrscht allerdings eine kühl-pragmatische Atmosphäre mit Mikro-Kommunikation, die sich auch stilistisch in der Beschreibung der Operation spiegelt. Es ist sehr anstrengend, den Satzfetzen zu folgen. Zudem nuscheln viele Ärzte hinter ihren Masken, stehen mit dem Rücken zu einem, geben auf Nachfragen keine Antwort – hier muss man sich extrem anpassen, jeder muss funktionieren. Aber auch das hilft mir, etwa eine 15-Stunden-OP durchzustehen. Das galt natürlich auch für den Fotografen – dem ich während der Preisverleihung bestimmt zehnmal im Stillen gedankt habe.
Wie kompensieren Sie solche Erlebnisse, was ist Ihr Ausgleich?
Es mag banal klingen: Meine Familie. Die Umarmung eines wissenden, mitfühlenden Menschen. Meine Stunden im Garten, wenn ich in der Erde herumwühlen kann. Und: liebe Kollegen, die geduldig zuhören, denen ich das alles erzählen kann.
Sie haben auf der Preisverleihung auch gesagt, dass freie Kollegen solche Geschichten nicht stemmen könnten. Warum?
Weil es viel zu zeitaufwändig ist. Ich habe eine wunderbar geölte Maschine von erfahrenen Kollegen hinter mir, die wissen, was so eine Recherche bedeutet, die mir auch die Zeit gegeben haben, trotz Rückschlägen bei der Recherche. Der große Rückhalt einer solchen Redaktion hilft ungemein.
Auch finanziell kann sich das heute kein Freier mehr leisten. Deshalb müssen wir die Redaktionen erhalten, damit wenigstens ein paar Kollegen die Chance haben, so aufwändige Geschichten zu machen. Fachlich traue ich das vielen hervorragenden Kollegen zu; ich arbeite jeden Tag mit freien Journalisten zusammen. Aber die müssen sich fragen: Wie hoch ist der Aufwand, wie schnell kann ich die Geschichte schreiben?
Nun gibt es aber immer mehr Freie und immer weniger fest angestellte Redakteure. Das würde ja bedeuten, dass solche Reportagen in Zukunft gar nicht mehr möglich sind.
Völlig richtig. Schauen Sie sich an, welche Kollegen Preise gewinnen – das sind fast alles Festangestellte. Ich habe ein großes Privileg, glücklicherweise. Wenn alle Festangestellten ausgelagert würden, gäbe es keine solchen Reportagen mehr, weil dann ein rein wirtschaftliches Denken herrscht und alle Autoren materiell wie ideell schutzlos dem mächtigen Markt ausgeliefert sind. Wie soll man dann noch Geschichten machen, in denen Rechercheure monatelang Skandale aufstöbern oder für die mehrere Reporter weltweit unterwegs sein müssen? Geschichten, wie sie etwa Süddeutsche Zeitung oder Spiegel machen?
Der Druck ist schon heute dramatisch. Uns muss bewusst sein, dass im Journalismus nicht alles dem reinen Markt unterworfen werden kann. Die Schwächung des Journalismus geht mir schon heute viel zu weit. Diese Strategie der totalen Unterwerfung unter die Marktgesetze kann nicht gutgehen – so wird ein Pfeiler der Demokratie langsam unterminiert. Viele junge Menschen, auch junge Journalisten, sind sich doch heute schon nicht mehr bewusst, was sie auch dem unabhängigen Journalismus zu verdanken haben.