Heribert Prantl nicht in Vosskuhles Küche, René Pfister nicht in Seehofers Keller: Von dieser Art sind die Aufregungen in unserer Branche. Nehmen wir den Theaterdonner hinzu, den die „Süddeutsche Zeitung“ bei der letzten Henri-Nannen-Preisverleihung gegen die „Bild“-Zeitung inszenierte, so darf man das Urteil wagen: Das sind Problemchen – verglichen mit den großen Ärgernissen, die die Journalisten sich und ihren Lesern in lockerer Folge bereiten. Denn Prantl und Pfister hätten sich mit dem Halbsatz „wie man mir erzählte“ retten können. Und die beiden Enthüllungen, über die beim Henri-Nannen-Preis gestritten wurde, waren von einer gewissen Dürftigkeit: die der „Süddeutschen“ über die BayernLB höchst verdienstvoll, aber nichts, was unser Lebensgefühl verändert hätte; die der „Bild“-Zeitung über Bundespräsident Wulff zwar ein populäres Thema, aber eigentlich kein staatsbewegendes: Dem niedersächsischen Landtag hatte Wulff die Wahrheit über die Finanzierung seines erstaunlich bescheidenen Hauses vorenthalten. Dazu behaupte ich: 1. Noch weniger Dreck am Stecken haben die wenigsten. 2. Nicht alle Journalisten, die gegen Wulff ermittelten, waren sympathischer als Wulff. 3. Angela Merkels Entscheidung von 2010, den Wulff dem Gauck vorzuziehen, bleibt die größere Nachricht.
Der Kernpunkt aber:
Auch wenn eine Recherche Wichtigeres oder gar Großartiges zutage fördert, und oft tut sie das durchaus – niemals kann sie die Grundsubstanz der journalistischen Wahrheitsvermittlung bilden. Die „Tagesschau“ braucht 365 erste Nachrichten, die Zeitung 300 Aufmacher pro Jahr, und auch bei größtem Eifer können mindestens 90 Prozent davon unmöglich das Ergebnis eigener Recherche sein.
Im Hinblick auf diese 90 Prozent sollten wir uns endlich klarmachen: Die Recherche ist nicht die Königstugend – einer angegrauten Redensart zum Trotz; auch mit gedämpfter Begeisterung über die Recherche-Teams, die in etlichen Redaktionen als journalistische Wunderwaffe eingerichtet worden sind. Die Kardinaltugenden heißen vielmehr: Augenmaß – Misstrauen – Rückgrat – Verweigerung!
Das hieße zum Beispiel: Die Agenturen bieten das nächste Ereignis als „Skandal“ oder „drohende Katastrophe“ an. Also fahren wir die Antennen aus und lauschen, prüfen, recherchieren – ob das diesmal stimmen kann? Keinesfalls lassen wir uns von „Eil“ oder „Vorrang“ verführen, auch nicht von der „Tagesschau“ oder aufgeregten Online-Kollegen; auch nicht von der Erleichterung, nicht immer nur von den Wowereits und den Westerwelles berichten zu müssen.
Im Wesentlichen gelungen war das bei der Ehec-Epidemie 2011: An diesem Darmbakterium erkrankten in Deutschland fast 4.000 Menschen, 53 starben daran. Mehrere führende Wissenschaftsjournalisten zogen danach zu Recht die Bilanz: Die Presse habe maßvoll berichtet und jede Panikmache vermieden.
Das war eine späte Distanzierung von dem Unheil, das die Wortführer der deutschen Publizistik 2009 bei der Schweinegrippe angerichtet hatten und 2001 bei BSE. Es besteht also die Hoffnung, dass sie aus dem damals publizierten Wahnsinn gelernt haben.
Zuversicht noch nicht: Der Ehec-Erreger hatte sich ja nicht mit Fernsehbildern ins öffentliche Bewusstsein eingebrannt wie bei der Schweinegrippe die Atemschutzmasken in Mexiko und beim Rinderwahnsinn die Kühe, die an einem Bein in die Höhe gezogen wurden. Auch dem Wort „Ehec“ fehlte das Unappetitliche und Dramatische von Schwein und Wahn. Die latente Sensationsgier von Publikum und Presse wurde also nicht durch Wort und Bild befeuert.
Zur Stärkung der Abwehrkräfte daher hier ein Rückblick, was damals geschah; ein Denkmal journalistischer Schande. Hätten Deutschlands Nachrichtenredakteure beide Seuchen total verschwiegen (was natürlich pflichtwidrig gewesen wäre) oder hätten sie sie niemals auf die Seite 1 gestellt (und das wäre möglich, ja angemessen gewesen): Keinem Deutschen wäre ein Nachteil entstanden, aber Millionen Deutschen eine unsinnige Angst erspart geblieben.
Am 24. April 2009 also zeigten die Nachrichtensendungen des deutschen Fernsehens auf den Straßen der Stadt Mexiko ein paar hundert Menschen mit Atemschutzmasken – mit der Erklärung, dort sei ein gefährlicher Grippevirus aufgetaucht. Dazu hätte der Sprecher eigentlich sagen müssen: Schutzmasken habe die Weltgesundheitsorganisation zwar empfohlen, aber nur für enge Räume; gefilmt wurde also die Minderheit der Übereifrigen. Die weit mehr als hundert Millionen Mexikaner ohne Maske hatten sowieso keine Chance, ins Bild zu kommen. Das Filmchen von den Außenseitern hätte man in den Redaktionen dorthin stellen können, wo es hingehörte: an den Schluss, als Kuriosum aus der Ferne.
Aber so ist das Fernsehen nicht. Mit den Bildern der Maskierten hielt das Unheil Einzug im Abendland. Internationaler Luftverkehr, Viren-Transfer binnen 24 Stunden! Schon am 29. April, fünf Tage nach den ersten Fernsehbildern und bei genau drei Infektionen in Deutschland, füllte die Schweinegrippe die gesamte Sendung „Hart aber fair“, mit Zuschauerfragen wie: Kann man in Deutschland eigentlich noch guten Gewissens schmusen? Am 9. Mai heizte der „Spiegel“ die Panik an: „Der Schweinegrippe-Erreger kann zum Horror-Virus mutieren“. Und alle Medien mahnten zum Impfen. Das rief alsbald eine Nachfrage hervor, die die Bestände an Impfstoff überstieg – und so konnte RTL gleich zwei Schreckensnachrichten verbreiten: Die Grippe geht um und der Impfstoff geht aus! Am 1. September stirbt wirklich ein Deutscher an der Schweinegrippe. Am 9. Oktober aber hätte alles klar sein können – da erklärte der Vorsitzende der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft in der „Tagesschau“: „Die Gesundheitsbehörden sind auf eine Kampagne der Pharma-Industrie hereingefallen.“ Für fast eine Milliarde Euro haben sie Impfstoff für 50 Millionen Bundesbürger bestellt. Hört nun der Rummel auf? Nicht im geringsten! Hätte man nicht bei jeder neuen Alarmnachricht, wie das Fernsehen sie allabendlich verbreitete, diesen Satz zitieren sollen? Die „Süddeutsche Zeitung“ schreibt sechs Tage später, am 15. Oktober: „Die meisten Mitglieder der deutschen Impfkommission stehen auf der Honorarliste von Pharma-Firmen.“
Beides aber beeindruckt die „Bild“-Zeitung nicht: „Schweinegrippen-Professor befürchtet in Deutschland 35.000 Tote!“, schreit sie am 21. Oktober heraus. Am 1. November warnt nun auch der Präsident der Bundesärztekammer in der „Tagesschau“ vor „Panikmache“, und der „Tagesspiegel“ berichtet: Der Schweinegrippen-Virus rette wahrscheinlich viele Menschenleben, weil er den viel gefährlicheren Virus der für Deutschland typischen Wintergrippe (mit ihren durchschnittlich 18.000 Toten!) offenbar verdränge.
Der „Spiegel“ hat inzwischen ein Einsehen und schreibt am 9. November: „Würden die Medien die normale Wintergrippe genauso aufgeregt verfolgen, müssten wir im Winter täglich schreien:, Schon wieder 100 Grippetote!‘“ Gut geschrien! Und die klassische Selbstentlarvung einer journalistischen Ursünde. Ist der Rummel nun vorüber? Ach nein: Am 25. November macht die „Bild“-Zeitung mit der Wahnsinnsnachricht auf: „Oli Pocher – Schweinegrippe!“ Und etwas kleiner, aber wahrlich atemraubend: „Wie gefährlich ist das für seine schwangere Sandy?“ Am 16. Dezember zog der Epidemiologe und Europa-Abgeordnete Wolfgang Wodarz im „Spiegel“ das Fazit: Dies war „einer der größten Medizinskandale des Jahrhunderts“. Den Steuerzahler hat er fast eine Milliarde für in Panik bestellte, aber nicht abgerufene Impfstoffe gekostet, nur sechs Prozent der
Deutschen ließen sich impfen und die Risiken der Impfung überwogen ihren Nutzen bei weitem: Bei 20 Prozent der Geimpften gab es erhebliche Nebenwirkungen. Im August 2011 wurde der Impfstoff vernichtet.
Ja, an der Schweinegrippe waren 2009 in Deutschland 159 Menschen gestorben. Aber das sind 0,9 Prozent der jährlich zu erwartenden Todesfälle durch die normale deutsche Grippe, die es niemals zu einer Schlagzeile bringt. Die Journalisten hatten also eine groteske Irreführung produziert und dabei – katastrophenlüstern, masochistisch oder in öder Routine – die Warnungen namhafter Experten in den Wind geschlagen.
Wie kann so etwas zustande kommen?
Die Nachrichtenseiten müssen voll werden. Die Redaktion kann nicht, wie die Feuerwehr, nur arbeiten, wenn es brennt – sie hat einen festen Platz für Brände freigeschlagen; in der Einschätzung „Dachstuhlbrand“ oder „Feuersbrunst“ darf sie nicht zimperlich sein.
Welche Erleichterung, wenn da irgendwo auf der Welt etwas passiert, was sich zum Aufmacher aufzäumen lässt! Und dabei wäre die ganze Schweinegrippe im „Vermischten“ oder „Aus aller Welt“ versackt – wenn sie in die ersten Wochen nach dem Fall der Mauer (1989) oder dem Einsturz des World Trade Center (2001) gefallen wäre! Da bestand kein Bedarf an künstlicher Aufregung, da war einfach kein Platz für aufgeblasene Nebensachen.
Wie hätte sich eine Zeitung mit einer Berichterstattung erst auf Seite 2 aber behaupten sollen im Geschrei der Konkurrenz? Ziemlich einfach – mit einem Kasten auf Seite 1: „Warum wir über die Schweinegrippe erst auf Seite 2 berichten“; zunächst: „Weil unser Blatt sich nicht an der leider verbreiteten journalistischen Panikmache beteiligen möchte. Wenn es wirklich gefährlich werden sollte, werden wir die Ersten sein, die …“ Dann mit genüsslicher Zitierung der abwiegelnden Experten.
Der andere Paradefall für journalistische Sensationshascherei, der Rinderwahnsinn, BSE – hatte noch gravierendere Folgen. An BSE erkrankten von 1985 bis 2004 auf der Welt 184.000 Rinder, 98 Prozent davon in Großbritannien. In Deutschland wurde BSE bis zum November 2000 bei insgesamt acht Rindern nachgewiesen. Diese acht Fälle aber reichten aus, um die Deutschen zwei Monate später, im Januar 2001, zu der aberwitzigen Meinung zu verführen, diese englische Kuh-Seuche sei ihre größte Sorge – vor damals vier Millionen deutschen Arbeitslosen! Da hatten die Journalisten gleichsam abgefragt, ob ihre Kampagne erfolgreich gewesen war, und mit der Antwort darauf hatten sie den nächsten Aufmacher gewonnen. Aber konnte der Rinderwahnsinn nicht auf den Menschen übertragen werden, als Creutzfeld-Jakob-Krankheit? Durchaus! Nur wurde in Deutschland kein einziger Fall davon gemeldet. Null Tote durch BSE! Null Tote haben allein in der „Süddeutschen Zeitung“ neun Aufmacher ergeben. Tausende von Toten ergeben meistens keinen (im Straßenverkehr zum Beispiel).
Aber die hysterischen Schlagzeilen senkten den Rindfleischkonsum um 41 Prozent, im Fleischereigewerbe gab es Hunderte von Pleiten, Millionen Mütter hatten Angst. Nur bis zum 24. August 2001 übrigens: An jenem Tag fühlte die „Süddeutsche Zeitung“ sich aufgerufen, die Hysterie, an deren Zustandekommen sie so lebhaft mitgewirkt hatte, vorwurfsvoll ihren Lesern nachzusagen: „Der Verbraucher neigt zur Hysterie“ – so überschrieb sie einen Vierspalter (auf einer hinteren Seite), und dazu die Unterzeile: „Dabei ist das Infektionsrisiko beim Rinderwahn minimal.“
Eine vorbildliche Selbst-Ohrfeigung – leider ohne den Hinweis, dass es eine solche war. Ein namhafter Zoologe resümierte 2004 in der FAZ: „Es muss befremden, dass ein so geringes Krankheitsrisiko Massenhysterien und härteste politische Maßnahmen zur Folge haben kann.“
Wann werden Journalisten die nächste Panik heraufbeschwören? Wann werden sie sich, redlich bis dümmlich, wieder einer bloßen Nachrichtenmode anschließen? „Journalisten“, sagt Peter Sloterdijk, „sind Facharbeiter für falschen Alarm.“ Weil sie zu wenig Misstrauen investieren. Genug gegen Bundespräsidenten – ein erschreckendes Minimum gegen die Fallstricke des Nachrichtengewerbes.
Der Autor
Wolf Schneider
Wolf Schneider (*7. Mai 1925) ist Träger des Henri-Nannen-Preises für sein publizistisches Lebenswerk (2011) und des Medienpreises für Sprachkultur der Gesellschaft für deutsche Sprache. Er war Korrespondent der „Süddeutschen Zeitung“ in Washington, Verlagsleiter des „Stern“, Chefredakteur der „Welt“, Moderator der „NDR-Talkshow“ und ist Autor von fast 30 Sachbücher. Von 1979, dem Gründungsjahr, bis 1995 leitete er die Henri-Nannen-Schule in Hamburg. Seither unterrichtete er als Ausbilder an Journalistenschulen in Deutschland, Österreich und der Schweiz, schrieb als ständiger Kolumnist für die „Neue Zürcher Zeitung“ und unterhielt die Videokolumne „Speak Schneider“ auf sueddeutsche.de.
Nun hat er beschlossen, seine Lehrtätigkeit mit dem 31. Dezember dieses Jahres einzustellen – „eine vorsorgliche Maßnahme, solange noch ich es bin, der entscheiden kann“.
Erschienen in Ausgabe 09/202012 in der Rubrik „Medien und Beruf“ auf Seite 40 bis 43 Autor/en: Wolf Schneider. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.