Darf man … Opfer zeigen?

von Stefan Niggemeier

Am 28. Juli dieses Jahres erschien die „Bild“-Zeitung „zum ersten Mal ohne Schlagzeile“. „BILD GEDENKT DER TOTEN VON NORWEGEN“ stand stattdessen in immer noch beachtlicher Größe auf der Titelseite. Anstelle der üblichen Rubriken, Nacktfotos und Überschriften waren drumherum die Fotos von 44 meist jungen Menschen, mitsamt Namen und Alter. „Wir sehen die Gesichter dieser Menschen“, stand da, „und spüren schmerzlich, welche Wünsche, Träume, Hoffnungen der Mord zerstört hat.“

Man könnte zynisch sagen, dass die „Bild“-Zeitung schon deshalb die Opfer zeigte, um nicht am fünften Tag in Folge mit einem Foto des Täters aufmachen zu müssen – in der „Bild am Sonntag“ prangte sein Kopf fast lebensgroß neben der Schlagzeile „Der blonde Teufel“. Aber selbst der Deutsche Presserat, ein Gremium, das immer noch an das Gute im Medium glaubt, konnte sich für das Gedenken nicht erwärmen. In seiner Sitzung Mitte September teilte er mit, zwei „Hinweise“ wegen solcher Veröffentlichungen ausgesprochen zu haben: „Nur weil Menschen zufällig Opfer eines schrecklichen Verbrechens werden, rechtfertigt dies nicht automatisch eine identifizierende Berichterstattung über ihre Person.“ Die „Emotionalisierung“ durch die Fotos sei nicht erforderlich gewesen; das Persönlichkeitsrecht der Opfer überlagere im konkreten Fall ein mögliches Informationsinteresse.

Es ist wohl kein Zufall, dass der Presserat die schwächste seiner drei schwachen Sanktionsmöglichkeiten wählte, den „Hinweis“. Die Unsicherheit des Gremiums ist schon im Pressekodex angelegt. In der Richtlinie 8.1 heißt es: „Opfer von Unglücksfällen oder von Straftaten haben Anspruch auf besonderen Schutz ihres Namens. Für das Verständnis des Unfallgeschehens bzw. des Tathergangs ist das Wissen um die Identität des Opfers in der Regel unerheblich. Ausnahmen können bei Personen der Zeitgeschichte oder bei besonderen Begleitumständen gerechtfertigt sein.“

Nach dem Blutbad in Winnenden erklärte der Presserat mehrere Galerien mit Fotos der Opfer unter Berufung auf ebendiese ominösen „besonderen Begleitumstände“ für zulässig – solange in ihnen die Nachnamen der Gezeigten abgekürzt wurden. Darauf legt das Gremium immer wieder erstaunlich viel Wert: „Mit beiden Namenszeilen werden die Opfer für die Öffentlichkeit komplett identifizierbar, wohingegen ein Foto mit Vornamen sie erst einmal nur in der unmittelbaren Umgebung erkennbar macht.“

Nach der Massenpanik bei der Loveparade in Duisburg urteilte der Presserat ungleich strenger: „Bei Winnenden handelte es sich um ein Verbrechen, bei dem ein junger Mensch andere junge Menschen vorsätzlich und wahllos tötete. Bei der Loveparade ereignete sich ein Unglück, für das es ein zumindest theoretisches Eintrittsrisiko bei Massenveranstaltungen gibt. Von daher lagen keine besonderen Begleitumstände vor, die eine identifizierbare Veröffentlichung der Opferfotos rechtfertigen könnten.“ Das klingt nicht nur akademisch, sondern absurd: Die Tatsache, dass jemand beim Besuch einer Veranstaltung damit rechnen muss, dass es zu einem Unglück kommt, schützt ihn davor, als Opfer von den Medien ausgeschlachtet zu werden? Und die Privatsphäre eines Schülers, der Opfer eines Amoklaufes wird, muss weniger geschützt werden, weil er mit einem solchen Überfall nicht rechnen musste?

Die Medien rechtfertigen durch den außergewöhnlichen Anlass nicht nur den Eingriff ins Persönlichkeitsrecht, sondern auch ins Urheberrecht. Sie tun so, als sei nicht nur das Zeigen der Opfer erlaubt, sondern auch jede Art der Fotobeschaffung.

Die Zunahme derartiger Opferporträtgalerien ist untrennbar mit der Verbreitung privater Fotos in sozialen Netzwerken verbunden. Nie war es so leicht, an Bilder und private Informationen nichtprominenter Menschen zu kommen. Der Presserat hat zwar erklärt, es „bedenklich“ zu finden, wenn Journalisten sich hier bedienen. Redaktionen scheinen davon nicht beeindruckt zu sein.Sie stellen sich nicht einmal einer Debatte. Sie verweigern schlicht die Auskunft. Ob nach Winnenden oder dem Absturz eines Air-France-Airbus’ vor zwei Jahren: Wer bei „Bild“, „stern“, „Focus“ oder RTL nachfragt, wie sie an die gezeigten Opferfotos gekommen seien oder wie sie es allgemein mit der Beschaffung oder der Notwendigkeit eines Einverständnisses halten, bekommt entweder gar keine Antwort oder die, dass es sich um Redaktionsinterna handelt, über die man keine Auskunft gibt.

Noch trauriger ist nur der Versuch, die Aufreihung der Opfer zur journalistischen Notwendigkeit zu verbrämen. „stern“-Chefredakteur Andreas Petzold formulierte das im vergangenen Jahr auf einer Veranstaltung des Presserats: Nur durch die Abbildung der über 200 Opfer des Airbus-Absturzes habe man den Lesern das Ausmaß der Tragödie deutlich machen können. Aus vielen Stellungnahmen von Medien gegenüber dem Presserat lassen sich ähnliche journalistische Bankrotterklärungen lesen.

Die Medien müssten eingestehen, dass solche Galerien nicht zwingend sind, sondern Ausdruck einer freien redaktionellen Entscheidung. Erst dann könnte man diskutieren, unter welchen Umständen die Bilder von Opfern einer Katastrophe gezeigt werden dürfen. Und ob man ihnen wirklich gerecht wird, wenn man sie in eine Briefmarke in einem Album verwandelt, einen Pixel in einem Mosaik, das das Ausmaß einer Tat verdeutlichen soll.

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Erschienen in Ausgabe 10-11/2011 in der Rubrik „Rubriken“ auf Seite 53 bis 53. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.