Da sage mal noch einer, die politischen Talkshows in den Öffentlich-Rechtlichen hätten ein Problem, authentische Stimmen ins Studio zu holen. Es war in Woche fünf nach der heftig kritisierten Programmreform der ARD mit der „Fünf Tage, fünf Talks“-Agenda. Da tauchte dieser junge Mann auf, gerade einmal 20, der druckreife Sätze sprach, klug und durchdacht und aufrichtig wütend. Der junge Kerl heißt Wolfram Siener und hatte die Protestgruppe organisiert, die in Frankfurt am Main vor der Europäischen Zentralbank ihre Zelte aufschlug hat, als Teil der mittlerweile internationalen „Occupy“-Bewegung, die schon seit Wochen die Wall Street in New York besetzt hält.
Und nun diskutierte er von der Zuschauerbank aus mit, redete über die Kluft zwischen Banken und Bevölkerung, argumentierte engagiert, wieso die Ignoranz von oben die falsche Haltung sei, war überzeugt, dass nur wenig fehle, um eine Bewegung von unten zu organisieren – und ließ sich nicht beirren von dem hilflos-irritierten Lachen der eigentlichen Talkrunde auf der Bühne. Übrigens bei Maybrit Illner. „Spiegel Online“ schrieb ein begeistertes Porträt über Wolfram Siener, er sei der „Hoffnungsträger“ einer „Generation“, der „Stern“ zog nach, die Tagesschau berichtete, auch die FTD, die „taz“ klappten hinterher.
Dass Siener mit seinem wütenden Idealismus ein authentisches Gesicht dieser Monate ist, zeigt sich schon allein daran, dass er kein Einzelphänomen ist – auch die Medienbranche hat ihren Wolfram Siener: Daniel Stahl, ein junger Journalist, der auf dem Höhepunkt des Tarifstreits im Sommer an die „sehr geehrten Verleger“ schrieb und ihnen aufdröselte, wieso es eine Schande sei, dass sie den Jungredakteuren in den neuen Verträgen noch weniger Geld zuteilen wollen. Die Empörung der Jungen, sie trifft den Nerv des Zeitgeists: Das Solidargefühl in der Branche bröckelt. „Ich sehe mit Zorn, welche Einkommensgrößen in den führenden Positionen der Medienkonzerne erreicht werden“, sagte Publizist Klaus Harpprecht unserer letzten Ausgabe, „während zugleich die Redakteure mehr und mehr schuften müssen und die Honorare gesenkt wurden.“ In der zweiteiligen Titelgeschichte (s. S. 18ff.) beschreibt Daniela Zinser diesen „Drei-Klassen-Journalismus“. Stahls Brief, der Preis für die „fairste und fieseste Redaktion“ des Freischreiber-Verbands, die Aktion „Worte sind wertvoll“, die Klage gegen die Buyout-Verträge der G+J-Wirtschaftsmedien (s. S. 42), all das zeigt: Es rumort. Das zeigt auch der Zuspruch für Katja Kullmanns neues Buch „Echtleben“, in dem sie erzählt, wie sie ihre Ressortleiterstelle beim Jahreszeitenverlag hinschmiss, als im Zuge des Umbaus allen Redakteuren gekündigt wurde (s. Interview S. 18).
Dass sich dieses fundamentale gegenseitige Unverständnis in den Medien auch inhaltlich zu zeigen beginnt, verblüfft da kaum. Zu beobachten war das nicht nur an der hilflosen Reaktion der Talkrunde auf Siener. Man sieht das ganz deutlich an den ARD-Talks, die nach der Programmreform vor allem unpolitischer wurden, wie Bernd Gäbler in seinem Standpunkt feststellt (s. S. 36). Wie groß die Kluft zwischen Programmmachern und Zuschauern ist, lässt sich regelmäßig bei Twitter beobachten, parallel zur Sendung. Von Richard Gutjahr kommt daher der Hinweis (s. S. 34), dass es TV-Formate geben kann und muss, die Social-Media-Elemente konzeptuell einbauen.
Über die Diskrepanz zwischen Publikum und TV-Machern musste man nicht immer so vehement debattieren. Einer, der die Brücke zu den Zuschauern immer zu schlagen wusste, mit seinem Stil das deutsche Fernsehen nachhaltig geprägt hat, wird jetzt 90 Jahre alt: Georg Stefan Troller, dessen Reportagen, dessen Fragen immer auch zeigten, wie sehr er sich übers Leben wunderte (s. S. 32).
Wer das Geburtstagsporträt liest, wird merken: Nie wäre Troller auf die Idee gekommen, den Journalismus gegen die PR einzutauschen. Doch genau das machen immer mehr Kollegen, wie Katy Walther in „Die Seitenwechsler“ beschreibt (s. S. 26). Ein Grund, der immer wieder genannt wurde: Sie flohen, der Zustand des Journalismus war für sie nicht mehr zu ertragen. Es ist alles auch eine Frage von Wertschätzung, im ursprünglichen monetären Sinne.
Apropos Wertschätzung: Die Solidardebatte betrifft längst nicht nur die verschiedenen Berufsgruppen unserer Branche, ob Feste, Freie oder Führungskräfte. Sondern auch die unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen, die auch als Medienmacher auftauchen sollten. Etwa Frauen: Seit einem Jahr hat sich in manchen großen Medien dann doch die Einsicht durchgesetzt, Frauen dezidierter zu fördern, etwa via Quote: Auch darüber berichten wir in der alljährlichen Ausgabe der „Journalistin“, die in diesem Heft steckt, einfach umdrehen!
Und noch eine Kluft wird in diesem Heft überbrückt: Zum 50. Jahrestag des sogenannten Anwerbeabkommens mit der Türkei organisieren deutschsprachige und türkischsprachige Medien in Deutschland einen Jobtausch zwischen den Redakteuren – man wolle die eigene Perspektive erweitern (s. S. 30). In diesem Sinne wünschen wir beim Lesen neue Perspektiven und: iyi eğlenceler!*
* Viel Spaß!
Erschienen in Ausgabe 10-11/2011 in der Rubrik „Editorial“ auf Seite 3 bis 4. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.