Storytelling

Es geht um die Kunst des Verführens. Mit einem Mittel, das seit jeher verfängt. Es heißt ganz schlicht: Ich erzähl dir eine Geschichte. Die meisten Menschen mögen Geschichten. Sie verbinden damit gute Erinnerungen. Mit dem Gestus des Geschichtenerzählers fängt man sie ein. Wecke Erwartungen und sage, ohne es auszusprechen: Ich hab etwas, was für dich – Hörerin oder Leser – interessant ist. Etwas, was mir oder wem anders passiert ist. Und es hat mit dir und deinem Leben zu tun! Auch wenn du es bislang nicht ahntest! So fängt man sie erstmal ein, die Leser. Mit dem Handwerk des Storytelling führt man sie dann bis zum Schluss des Textes. Wird die Geschichte gut erzählt, ist das Publikum zufrieden und satt am End.

Wissen, was wirkt. Eine Erzählung ist gewebt aus Handlung, Form und Struktur. Packende Geschichten arbeiten mit Motiven, die Menschen bewegen, berühren, beschäftigen. Ihre Handlungsmuster und Figurenkonstellationen wirken. Sie sind nicht neu, im Gegenteil. Sie werden variiert seit Menschengedenken. Wir kennen sie aus Märchen und Sagen, Romanen und Dramen, vom Kino und aus Groschenheften. Darum geht es beim Storytelling: das Potenzial, das Kraftfeld von Themen aufzuspüren und zu gestalten.

Storytelling ist ein Prinzip, Geschichten aufzubauen. Die gute Geschichte gibt sich nicht damit zufrieden, Handlungsabläufe anschaulich zu schildern. Sie will Poesie, Nähe und Relevanz. Die erreicht sie, indem sie über den Einzelfall hinausweist. Erzähler erlauben sich, ihr Thema so zu fokussieren, dass sie ein Höchstmaß an Spannung und Anteilnahme erzielen. Sie tun das im Wissen darum, was Menschen schon immer fasziniert und beschäftigt hat. So entsteht Resonanz.

Autoren, die sich trauen. Die Neuigkeit, die Aktualität ist nicht notwendig der Kern des Textes. Die Geschichtenerzählerin interessiert sich vielmehr für Menschen, für Motive und Strukturen. Sie sucht die Perspektive, die an ihre Leser „rangeht“. Sie findet das wirksame Muster im Thema, in ihrem Stoff. Dieses Muster gibt das Gerüst, den Dreh ihres Textes. Grundregeln für ein solches Vorgehen formuliert die Poetik des Aristoteles. Sie fordert, dass eine Handlung aus Anfang, Mitte und Ende bestehen möge. Und sie bestimmt das Verhältnis von Personen, Handlung und Ort. Die Regeln des Aristoteles funktionieren im Drama wie in der Zeitung. Journalisten erzählen so aus dem Schatz der Menschheitsgeschichten eine jeweils tagesaktuelle Variante. Der Reichtum an Varianten ist unerschöpflich.

Eine Definition. Michael Haller, Professor für Journalistik in Leipzig, definiert: „Die Story ist eine dramaturgisch gestaltete Erzählung; sie ereignet sich in der Zeit (=hat immer auch eine Chronologie) und hat einen dem Thema immanenten Anfang und ein Ende. Dramaturgisch gestaltet bedeutet: Der Stoff wird so umgesetzt, dass die Hauptakteure einen Prozess (Wandlung) durchlaufen.“

Geht nicht gilt nicht. Zeitmangel und Produktionsstress werden gerne als Entschuldigung für schwache Texte bemüht. Es gibt üblen Druck, unbenommen. Wahr ist aber auch: Täglich liefern unsere Tageszeitungen Hinweise auf aufregende und wunderliche Menschen, auf traurige oder unerhörte Begebenheiten. Spuren scheinen auf in Zitaten, Schatten huschen durch Nebensätze. Aber sie können ihre Kraft und Magie nicht entfalten, weil sie nicht gestaltet werden. Es stimmt, dass Muße beim Recherchieren und Schreiben das Erzählen befördert – sie ist aber nicht das Nadelöhr, durch das die Geschichte kommt. Entscheidend ist der Blick der Autorin, des Autors, für den Fokus eines Themas. Es ist keineswegs Kollegen vom „Spiegel“, „Geo“, der „Zeit“ oder der „Süddeutschen Zeitung“ vorbehalten, wunderbar Geschichten zu erzählen. Es ist nicht wahr, dass man für eine schön erzählte Geschichte ganz viel Platz bräuchte. Man kann auch auf 3.000 oder 4.000 Zeichen erzählen. Man muss aber wissen, worauf es dabei ankommt. Geschichten brauchen einen Fokus. Auf Kurzstrecken spüren Leser ganz schnell, ob der Text von einer Idee inspiriert und gestaltet oder nur chronologisch vom Blöckchen abgeschrieben wurde.

Was dafür spricht. Im Frühsommer 2007 haben einige Journalisten in Hamburg das Reporter-Forum gegründet. Sie wollen die Reportage voranbringen. Die auflagenstärkste Tageszeitung im deutschen Sprachraum, die „Süddeutsche Zeitung“, setzt auf erzählende Texte. Ihre Auflage steigt. „Die Zeit“, die „Stuttgarter Zeitung“, der „Tagesspiegel“: sie setzen auf die Reportage.

Wenn sich Mediennutzer binnen Sekunden alle Infos – und Bilder! – besorgen können, weil es so viele Infokanäle gibt, dann macht der Blick auf das Thema den Unterschied. Eine gut erzählte Geschichte stellt Zusammenhänge her. Sie bietet nicht einfach nur irgendeine Neuigkeit feil. Darin unterscheidet sie sich fundamental vom Infohappen. Sie ist das Gegenteil von beliebig.

Das Hören und Lesen von Geschichten ist die Form, in der unser Hirn am liebsten und am nachhaltigsten Neues integriert. Geschichten bedienen ein Urbedürfnis der Leser. Der Leserinnen noch mehr als der Leser. Leserinnen lesen mehr, und sie lesen länger. Sie suchen emotionalere Ansprache, sie wollen sich identifizieren, und sie schätzen ganzheitliche Betrachtung. Geschichten machen und geben Sinn.

Manchmal hat man nach einer runden Geschichte gar keine Lust mehr auf geschmacksneutrale Nachrichtenhäppchen. Denn gute Geschichten machen satt.

Die Autorin:

Marie Lampert,

Journalistin und Psychologin, gibt Workshops zu wesentlichen Dingen des Lebens: Selbstmanagement, Kommunikation, Kreativität. Textdramaturgie gehört auch dazu, denn schöne Texte machen glücklich. Kontakt: lampert@ohlala.info; Internet: www.ohlala.info

Erschienen in Ausgabe 11/2007 in der Rubrik „Storytelling“ auf Seite 2 bis 2. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.