Berliner Alphatiere

In der Berliner Vertretung des Landes Rheinland-Pfalz konstatierte der SWR-Journalist Thomas Leif kürzlich ein „Stuhlproblem“. Leif und das „Netzwerk Recherche“, dessen Vorsitzender er ist, hatten an einem Dienstagabend im Oktober zum „Mainzer Medien-Disput“ geladen. Thema: „Auf der Pfaueninsel – Licht und Schatten des Hauptstadtjournalismus“. Üblicherweise erscheint bei Veranstaltungen in Berlin die Hälfte der Angemeldeten gar nicht – die Auswahlmöglichkeiten in der Hauptstadt sind so reichlich wie die Buffets üppig. Doch an diesem Abend stand tatsächlich die Mehrheit der Angemeldeten auch auf der Matte, und das sicher nicht nur wegen eines Süppchens mit Forelle und der ausgeschenkten Pfälzer Weine. Die Zuhörer drängelten sich bis in die Eingangshalle, Pförtner ließen Zuspätkommer minutenlang draußen stehen.

Anlass für die zahlreiche Zusammenkunft war das Buch „Republik der Wichtigtuer“ von Tissy Bruns, der Parlamentsbüro-Chefin des „Tagesspiegel“. Eine der zentralen Thesen der Journalistin lautet: Politiker wie Journalisten gehören zu den Verlierern der Mediengesellschaft. Im Bewusstsein der Bürger seien sich beide Gruppen ähnlicher geworden, indem sie sich ständig aufeinander bezögen und dabei die Rolle der Wichtigtuer einnähmen. Tatsächlich hätten sie den Kontakt zur Lebenswirklichkeit aber längst verloren (siehe auch Interview Seite 20 ff.).

Ein bißchen eitel. Zu den Diskutanten in der Landesvertretung gehörten neben Bruns auch Günther Bannas, der Parlamentsbüro-Chef der „FAZ“ und sein Kollege Nico Fried von der „Süddeutschen“ sowie Martin Bialecki, der das Hauptstadt-Büro der Nachrichtenagentur dpa leitet. „FAZ“, „SZ“, „Tagesspiegel“, dpa – die Meinungsführer der „nervösen Zone“ (so der Titel eines Buches des Publizisten Lutz Hachmeister) Berlin-Mitte waren mal wieder unter sich. Nicht ganz. Die Runde komplettierte mit Dieter Wonka, dem Berliner Büroleiter der „Leipziger Volkszeitung“, ein Vertreter der Regionalzeitungen. In den Berichten über die Akteure der Berliner Republik, den „Alpha-Journalisten“ (so der Titel eines weiteren Buches aus diesem Jahr) der Nation, kommt diese Spezies nur selten bis gar nicht vor. Dabei erreichen eine Reihe von Regionalzeitungen genauso viele, manche sogar mehr Leser als überregionale Blätter.

Darauf, dass es „zweifellos viele Wichtigtuer“ (Bannas) in der Berliner Medien-Schickeria gebe, konnte sich der Kreis rasch einigen. Und auch da-rauf, dass man selbst vielleicht auch ein wenig eitel sei, ob nun als „SZ“-Korres-pondent oder Vertreter einer Regionalzeitung. Das Gespräch auf dem Podium kreiste dann schnell um die Defizite des Hauptstadtjournalismus, die dpa-Mann Bialecki im knappen Stil seiner Profession mit „Skandalisierung, Boulevardisierung, Personalisierung“ charakterisierte. „Viele, die in unserem Beruf arbeiten, genügen nicht Anforderungen, die ich an normale Volontäre oder Bäckerlehrlinge stellen würde“, warf Dieter Wonka in die Runde. Proteste gab es keine. Was Wonka konkret kritisierte, sagte er auch: Journalisten drängten sich Politikern ohne Kenntnis der Materie auf. Es fehle an Haltung. Und: Zu viele Kollegen ließen sich von Politikern für deren Zwecke einspannen. Man nahm an diesem Abend die Erkenntnis mit, dass Wichtigtuerei und Selbstkritik in der Berliner Republik nahe beieinander liegen können.

Hauptstadt-Service. Zwei Tage nach der Podiumsdiskussion mit Tissy Bruns, nur eine Landesvertretung weiter: Die Berliner Medien Service GmbH (BMS) hat in der Vertretung des Saarlandes zum „Hauptstadt-Abend“ geladen. Auf der Gästeliste stehen rund 150 Politiker, unter ihnen Innenminister Wolfgang Schäuble, Wirtschaftsminister Michael Glos, Saarlands Ministerpräsident Peter Müller als Hausherr, Grünen-Chefin Claudia Roth, Karl Lauterbach und Wolfgang Bosbach. Die BMS nennt sich „Das Hauptstadtbüro der starken Regionalzeitungen“ und ist eine Tochter der „Saarbrücker Zeitung“ (s.Kasten).

„Wir vertreten 16 Zeitungstitel, die zusammen auf eine Auflage von 1,5 Millionen Exemplare kommen und insgesamt vier Millionen Leser erreichen“, sagt Peter Stefan Herbst, der Chefredakteur der „Saarbrücker Zeitung“ und zugleich BMS-Geschäftsführer ist. Diese Größenangaben wird Herbst im Gespräch noch mehrfach betonen. Auch am Abend in der Landesvertretung Saarland wirbt Herbst, der früher stellvertretender Pressesprecher der Fluggesellschaft LTU war und Mitte der 90er die MDR-Talkshow „Riverboat“ moderierte, mit der millionenstarken Zielgruppe. Schließlich ist es kein Zufall, dass die BMS zu diesem Abend eingeladen hat. „Wir wollen Flagge zeigen für unsere Titel“, sagt Herbst.

Im Verbreitungsgebiet der Zeitungen, zu denen u. a. die „Aachener Nachrichten“, die „Rhein-Zeitung“, das „Darmstädter Echo“ sowie alle Holtzbrinck-Regionaltitel gehören, habe man fünf Minister, zehn Staatssekretäre und 102 Bundestagsabgeordnete, rechnet Herbst vor. Allein die Botschaft, dass Politiker ihre möglichst exklusiven Meldungen statt bei der „FAZ“ oder „SZ“ auch bei den Redakteuren des BMS-Büros platzieren können, scheint bei den Volksvertretern für Herbsts Geschmack noch nicht ausreichend angekommen zu sein. Im Wahlkampf, so ist an diesem Abend immer wieder von Chefredakteuren zu hören, besuchen Politiker die Regionalzeitungen sehr gerne und geben Interviews. Außerhalb dieser Zeiten sehe das schon ganz anders aus. Dann zähle meistens nur Fernsehen, „Bild“ und „FAZ“ oder „SZ“.

Regionale Werte. Chefkorrespondent im Drei-Mann-Team des BMS-Büros ist Werner Kolhoff. Er leitete das Bundesbüro der „Berliner Zeitung“, war Sprecher des Berliner Senats und bis zu seinem Wechsel zur BMS im Bundespresseamt tätig. Der Schwerpunkt seiner Arbeit, sagt Kolhoff, liege in der Einordnung und Analyse des politischen Geschehens. Bei Kommentaren, die er und seine beiden Kollegen schrieben, müsse man sich stilistisch gegebenenfalls mehr zurückhalten als Korrespondenten überregionaler Medien. Was man in der Hauptstadt so sehe, werde in der Region – das Wort „Provinz“ ist im BMS-Sprachgebrauch nicht vorgesehen – möglicherweise ganz anders gesehen. Entsprechend fielen die täglich vom Bundespresseamt zusammengestellten Kommentare aus Regionalzeitungen in der Pressemappe II wesentlich heterogener aus als die der überregionalen Blätter in Pressemappe I. „Wir müssen nicht jede Drehung, nicht jeden Spin mitmachen“, sagt Kolhoff. Sein Kollege Herbst ergänzt: „Regionalzeitungen stehen für Bodenhaftung. In Berlin besteht immer die Gefahr, in einer Kunstwelt zu leben.“

Bei aller Zurückhaltung müssen die BMS-Korrespondenten das Spiel im Konzert der Hauptstadtpresse jedoch mitspielen. Ein leiser Underdog, der sich nobel zurückhält, wenn andere aus allen Rohren Nachrichten verbreiten, möchte und kann man nicht sein. Fast jeden Tag biete man den Zeitungen aktuelle Interviews an, sowie eine ganze Reihe von verwertbaren Zitaten. „Das Thema Zitierung ist sehr wichtig“, sagt BMS-Geschäftsführer Herbst. Das vom „Medientenor“ – laut Tissy Bruns in den Redaktionen auch „Medienterror“ tituliert – erhobene Ranking der meistzitierten Medien macht auch nicht vor Regionalzeitungen halt. „Wenn wir von anderen zitiert werden, erhöht das unseren Marktwert“, sagt Peter Stefan Herbst. Und je höher der Marktwert, umso größer die Chance auf ein exklusives Interview oder einen Platz im Flugzeug der Kanzlerin auf einer ihrer Auslandsreisen. Vom BMS exklusiv recherchierte Meldungen werden in der Regel im Namen der „Saarbrücker Zeitung“ zitiert, denn die ist im Kreis der 16 Titel Poolführer.

„Gütesiegel“ . Ein weiteres Korres-pondentenbüro, das die Polit-Agenda der Regionalzeitungen bestimmt, ist das Redaktionsbüro Slangen-Herholz von Christoph Slangen und Andreas Herholz. Die beiden Journalisten beliefern aus ihrem Büro mit zwei weiteren Kollegen ein gutes Dutzend Zeitungen, darunter die „Passauer Neue Presse“, den „Wiesbadener Kurier“ und die „Nordwestzeitung“. Die kombinierte Auflage ihrer Abnehmer liegt wie die der BMS-Kunden bei über einer Million Exemplaren am
Tag. Anders als bei der BMS steht hinter dem Büro, das bereits seit Bonner Tagen besteht, kein federführender Verlag als Poolführer. „Wir sind unabhängig und machen unser eigenes Ding“, sagt Andreas Herholz. Dazu gehöre, das man den Kunden „vor allem ein umfangreiches Hintergrund-Angebot und Kommentare“ liefere. Da-rüber hinaus machen Slangten und Herholz möglichst wenig Wind um sich. Ihre Website ( www.slangen-herholz.de) ist nicht mehr als eine Visitenkarte, versehen mit dem Hinweis „Nachricht, Hintergrund, Meinung“. Akzeptanz-Probleme bei der politischen Klasse habe man nicht, sagt Herholz. „Wir können uns nicht beklagen. Regionalzeitungen führen in Berlin kein Mauerblümchen-Dasein.“

Zu ihren Kunden gehört auch die „Aachener Zeitung“. Der Zeitungsverlag Aaachen hatte 2003 Teile der Redaktionen von „Aachener Zeitung“ und „Aachener Nachrichten“ zusammengelegt; es gibt eine gemeinsame Chefredaktion und gemeinsame Ressortleiter. Große Teile der politischen Berichterstattung, darunter die ersten fünf Seiten des ersten Buches beider Blätter, bleiben jedoch bis heute unterschiedlich. „Zur besseren Profilierung“, so Vize-Chefredakteur Bernd Büttgens, lege man Wert darauf, mit zwei Hauptstadtbüros zu arbeiten. Entsprechend lassen sich die „Aachener Nachrichten“ von der BMS beliefern. „Ich bin sicher, wir wären nicht so nah dran in Berlin, wenn wir unsere Büros nicht hätten“, sagt Politikchef Peter Pappert. Man stehe mit beiden Berliner Büros in permanentem Kontakt. Dpa und andere Agenturen könnten diese Fülle an Hintergrundstücken, Interviews und Kommentaren nicht liefern. Und auch wenn eine spezifische Regionalisierung der Themen im Angebot der Hauptstadtbüros in der Regel nicht möglich ist, bezeichnen beide Journalisten die Anbindung an ein Hauptstadtbüro als ein unerlässliches „Gütesiegel“ für eine Regionalzeitung.

Nebenwirkungen. So praktisch die Beteiligung an einer eigenen „Polit-Agentur“ ist, die sich mehr als eine reine Nachrichtenagentur an den Wünschen und Bedürfnissen ihrer Kunden orientiert, so sehr ist die Gefahr der Nivellierung der Berlin-Berichterstattung und –Analyse gegeben. Wenn etwa Werner Kolhoff oder Christoph Slangen einen Kommentar zum Afghanistan-Entscheid oder über den Lokführer-Streik schreiben, drucken potenziell gleich ein Dutzend Blätter im ganzen Land diesen einen Kommentar ab. Je mehr Tageszeitungen sich hinter einem Büro zusammenscharen – nicht zuletzt aus finanziellen Gründen –, umso einheitlicher fällt also die Meinungsbildung in der deutschen Tagespresse aus. „Dass die, Rhein-Zeitung‘ den gleichen Kommentar wie der, Trierische Volksfreund‘ oder das, Darmstädter Echo‘ im Blatt hat, wäre früher nicht denkbar gewesen“, sagt ein Verlagskenner am Abend des BMS-Empfangs.

Aber selbst die Verlage, die nicht dem BMS oder Slangen-Herholz angeschlossen sind, arbeiten an Sy-nergie-Modellen. Die „Badische Zeitung“, die mit drei Kollegen aus der Hauptstadt berichtete, schloss ihr eigenständiges Büro 2001 und kooperiert nun mit der „Stuttgarter Zeitung“. Man könne nun auf insgesamt fünf Kollegen zurückgreifen, berichtet Chefredakteur Thomas Hauser. Die „Leipziger Volkszeitung“, die zu 50 Prozent der Verlagsgesellschaft Madsack in Hannover gehört, arbeitet mit den Kollegen der „Hannoverschen Allgemeinen“ zusammen. Und die vier Berliner Korrespondenten des „Kölner Stadt-Anzeigers“(KStA) und der „Mitteldeutschen Zeitung“, deren Verlag M. DuMont Schauberg vor Kurzem die „Frankfurter Rundschau“ kaufte, fusionieren demnächst mit dem „FR“-Hauptstadtbüro.

„KStA“-Chefredakteur Franz Sommerfeld sieht die bevorstehende Zusammenlegung entspannt. Er ist kein Freund von Agentur-Modellen der Bauart BMS oder Slangen-Herholz. Leser richteten unterschiedliche Erwartungen an ihre Zeitungen. Sommerfeld glaubt auch nicht, dass Auflagenhöhe ein Unterscheidungsmarkmal in der Hauptstadt-Journaille ist. Es komme zwar auch darauf an, wie groß eine Zeitung sei, aber: „In erster Linie entscheidet die Dicke eines Telefonbuchs und das Vertrauen, das man einem politischen Korrespondenten entgegenbringt, über dessen Erfolg.“ Sommerfeld war selbst einmal politischer Korrespondent, bei der „Berliner Zeitung“. Dennoch ließen sich freilich bei vielen Themen Synergien zwischen den drei DuMont-Blättern nutzen. „Wie sich das entwickelt, muss man mal se-hen“, sagt Sommerfeld. Er gehe mit einer „gewissen Lässigkeit“ an die Fusion der beiden Büros heran.

Am Tag nach dem „Hauptstadt-Abend“ des BMS fährt ein Busshuttle die in Berlin versammelten Chefredakteure vom Hotel Hilton am Gendarmenmarkt zuerst ins Schloss Bellevue. Frühstücken mit Bundespräsident Horst Köhler steht auf der Tagesordnung. Daran schließen sich Hintergrundgespräche mit Franz Müntefering und Bundeskanzlerin Angela Merkel an. Auch für Berliner Verhältnisse eine eindrucksvolle Agenda, die bei den Chefredakteuren ankommt und auf die BMS-Chef Herbst sichtlich stolz ist. Er weiß, was Chefredakteure erwarten, egal, ob sie ihr Blatt nun in Würzburg oder Pirmasens machen. Sie wollen in Berlin auf Augenhöhe mitspielen, mitten drin statt nur dabei. Selbst wenn das bedeutet, dass man sich die erste Reihe mit einem Dutzend Kollegen teilen muss.

Erschienen in Ausgabe 11/2007 in der Rubrik „Titel“ auf Seite 24 bis 27 Autor/en: Christian Meier. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.