Empören wir uns nicht genug, Herr Harpprecht?
Der Publizist Klaus Harpprecht, ausgezeichnet mit dem Theodor-Wolff-Preis 2011 für sein Lebenswerk, über die Gefahren von Terrorismus und Stereotypen, journalistische Verantwortung, Nachwuchsförderung, Unabhängigkeit und Seitenwechsel.
Interview: Annette Milz
Ihr Freund Michael Naumann hat Sie „wahrscheinlich der erste globalisierte Geist der Republik“ genannt. Würden Sie sich selbst als Weltbürger bezeichnen?
KLAUS HARPPRECHT: Also globalisiert ganz gewiss nicht. Ich hab zwar diesen und jenen Fleck auf unserem Globus kennengelernt, aber weite Teile eben auch nicht. Mein Grundgefühl ist ein europäisch-atlantisches mit dem Schwerpunkt auf europäisch. Und was immer die jetzige Krise bedeutet: Die Erbauung eines vereinten Europas – auch wenn sie längst nicht vollendet ist – ist zweifellos der größte Gewinn der Welt nach dem Ende der Katastrophen 1945 und nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Hier ist etwas Großes geschaffen worden, das wir nicht so leicht preisgeben sollten.
Welche Aufgaben sehen Sie denn für uns Journalisten in dieser Krise Europas?
Wer sich und anderen hierzulande beispielsweise einredet, dass wir an der „griechischen Gefahr“ zugrunde gehen, sollte mal nachschauen, was die Deutschen den Griechen an Rüstungsgütern ins Budget gedrückt haben. Hier herrscht eine große Verlogenheit, die die Medien aber kaum je wahrgenommen haben. Noch hat kein Deutscher auch nur einen Cent an Griechenland verloren, denn die Bürgschaften sind nicht abgerufen worden und die Griechen zahlen Zinsen. Das ist die wirkliche Lage. Zudem hat der Euro der Krise bisher mit einer erstaunlichen Härte widerstanden, und das wird er auch weiter, weil er dem internationalen Grundinteresse aller wichtigen Beteiligten entspricht. Stellen Sie sich vor, dass ein in Einzelwährungen zersplittertes Europa schon in der vorhergehenden Finanzkrise der Spekulation ausgesetzt gewesen wäre. Es wäre eine Katastrophe geworden. Die Schaffung des Euro war eine wirklich große Leistung. Das panische Geschwätz in allen Redaktionen sowie von unverantwortlichen Politikern gaukelt uns ein Bild vor, das so schwarz gemalt nicht existiert.
Klaus Harpprecht, am 11. April 1927 als Sohn eines Pfarrers in Stuttgart geboren, begann seine journalistische Laufbahn 1946 als Volontär bei „Christ und Welt“ (Chefredakteur damals: Eugen Gerstenmaier). Als Stationen folgten u. a.: In den 50ern RIAS (Berlin) und WDR (Köln), in den 60ern Dokumentarfilm-Produktionen für Peter von Zahns „Windrose“ (´60-´62), danach erster USA-Korrespondent des ZDF in Washington, Leiter des S. Fischer Verlag in Frankfurt/M. (’66-’69).
In den 70ern war er als „Leiter der Schreibstube“ Redenschreiber und Berater von Bundeskanzler Willy Brandt (’72-’74, s. a. „Im Kanzleramt. Tagebuch der Jahre mit Willy Brandt“, Rowohlt 2000), ZDF-Korrespondent in den USA und „Geo“-Chefredakteur (’78/’79). 1982 ging er für die „Zeit“ nach Paris – und zog mit seiner Frau Renate Lasker-Harpprecht im selben Jahr nach Südfrankreich.
Zu seinen vielen Büchern zählen Standardwerke wie die Biografien Thomas Manns und Georg Forsters. Der preisgekrönte Publizist und Mitherausgeber „Die andere Bibliothek“ (2007-’10) beschreibt seinen Arbeits-Ethos in Anlehnung an Nietzsche so: „Jeden Tag wenigstens eine Seite schreiben, denn Handwerk verlangt Training, die Inspiration kommt von selbst.“ ami
Sie haben schon die Entstehung der europäischen Gemeinschaft als Korrespondent in Bonn beobachtet. Wie beurteilen Sie heute den Politikjournalismus aus Berlin?
An Qualität hat der deutsche Journalismus sicher nicht durch den Umzug von Bonn nach Berlin gewonnen. Man hat Bonn vorgeworfen, dass Politiker und Journalisten abgeschottet in diesem gemütlichen Universitäts- und Pensionärsstädtchen unter einer großen Glasglocke leben. Der Atem der Weltstadt werde die Politiker und die Journalisten in das wirkliche Leben zurückzwingen. Tatsächlich ist die Glasglocke nur größer geworden. Sie reicht jetzt nicht mehr vom Italiener am Bonner Marktplatz bis zum berühmten Restaurant „Maternus“ am Godesberger Bahnhof, sondern vom alten „Einstein“ in der Kurfürstenstrasse bis zum „Borchardt“ in der Französischen Straße, wo Journalisten und Politiker zu oft die Köpfe zusammenstecken. Da werden die kleinen Abhängigkeiten geschaffen durch das gängigste Korruptionsmittel im Umgang zwischen Medien und Politik und zum Teil der Wirtschaft: das sogenannte Vertrauen und die Vertraulichkeit. In Wahrheit sind die vermeintlich exklusiven Informationen meist nur Bestechungsmittel, um Journalisten zu bauchpinseln.
Nach den Attentaten vom 11. September 2001 haben Sie gewarnt, „die Wirkung des Terrors soll uns in die Anpassung treiben“, und das „Diktat von Stereotypen, unter denen wir leben“, gegeißelt. Wie sehen Sie da die anhaltende Debatte über Thilo Sarrazins „Deutschland schafft sich ab“?
Es gibt einige Sätze in diesem Buch, die völlig klar von rassistischem Denken geprägt sind. Das ist auf das Schärfste abzulehnen. Dass man aber ein solches Tohuwabohu um den Ex-Senator macht, habe ich nicht eingesehen, fand auch die Reaktionen der SPD zum großen Teil nicht in Ordnung.
Was ich dem Journalismus ankreide: Es gibt in Deutschland viel, viel mehr Fälle von geglückter Integration, als bei uns in den Medien anklingt. Wir sehen nur auf total missglückte Fälle wie in den Berliner Schulen. Aber von Menschen, gleich welcher Herkunft, die ihre Chance wahrnehmen, die sie von dieser Gesellschaft auch bekommen, ist zu wenig die Rede.
Mit Blick auch auf die aktuellen Ereignisse in Norwegen: Wie sollten Medien ihrer Verantwortung gerecht werden?
Indem man mit Respekt auf die Opfer schaut und deren Gefühle achtet. Und den Täter als das behandelt, was er ist: Ein Hochkrimineller mit wahrscheinlich pathologischen Anlagen, dessen vermeintlichen Lehren man keinen großen Platz geben sollte. Furchtbare Sektierer wird es immer geben, leider. Da ist unsere journalistische Fairness und Sorgfalt wie in jedem anderen Fall herausgefordert. Ich fand die norwegische Reaktion auf diese schreckliche Tragödie bewundernswert – die mit der Deklaration von noch mehr Offenheit, statt mit hysterischen Sicherheitsreaktionen antwortete, was auf Dauer eine viel größere Sicherheit bietet. Da wird mir übrigens noch einmal klar, wie sehr Willy Brandt von dem Geist dieses Landes geprägt worden ist. Mit welcher Disziplin und gleichzeitig auch Wärme diese Gesellschaft die Tragödie aufnimmt, ist bewundernswert. Meine große Achtung. Ich wünschte, wir würden daraus unseren Teil lernen.
In Ihren „Theodor -Herzl-Vorlesungen für Poetik des Journalismus“ 2004 haben Sie gesagt: „Bürger zu sein, weiter kann man es in einem journalistischen Leben nicht bringen. Mehr und Besseres kann man als Demokrat nicht sein.“ Heute ist hier allerdings mehr von Wutgesellschaft als von Bürgergesellschaft die Rede. Was besagt das über den Zustand des Journalismus?
Journalisten hätten die Wut vielleicht gelegentlich in einer vernünftigen Weise zeigen sollen, zeigen müssen. Das zeigt der ungeheure Erfolg dieser kleinen Kampfschrift „Indignez-vous!“ (dt.: „Empört Euch!“) des würdigen 94-jährigen Stéphane Hessel, französischer Diplomat deutscher Herkunft. Eine funktionierende Demokratie braucht die Empörung, die sich über die latente Rücksichtslosigkeit der Bürokratie hinwegsetzt.
Ich fand es eine neue Empörung der Bürger von Stuttgart wert, dass die Alternativpläne innerhalb von 24 Stunden von diesen Chefschnöseln der Deutschen Bahn einfach vom Tisch gewischt wurden. Das ist ein Umgang mit der Öffentlichkeit, mit dem Bürgerstolz, den man sich nicht gefallen lassen soll.
Empören wir Journalisten uns nicht genug?
Ich glaube, wir empören uns nicht gezielt genug. Dazu muss man auch sehen, dass es dem Journalismus im Allgemeinen nicht besonders gut geht. Die Arbeitskraft von Journalisten und ihren Techniker-Kollegen wird heute in einer Weise ausgeplündert wie nie zuvor. Ich lese natürlich auch, dass die Auflagenzahlen der gedruckten Presse schwinden, dass die Hoffnungen auf das E-Buch und Online-Verdienstquellen nicht so leicht aufgehen. Aber diese Lage zu nutzen, um junge Journalisten in ihren Gehältern oder Honoraren in einer Weise zu drücken, die selbst den Vergleich mit den fünfziger Jahren kaum aushält – dagegen sollte man sich empören.
In den angeblich so vermufften 50er Jahren wurde in Deutschland eine Partnerschaft zwischen Arbeiterschaft und Unternehmertum begründet, die in der ganzen Welt als beispielhaft galt und ein stabiles Fundament für die Demokratie schuf. Heute hat man das Gefühl für eine solche Partnerschaft verloren – leider auch in unserem Stand.
Ich sehe mit Schrecken die Meldungen von den Ausdünnungen der Redaktionen. Ich sehe aber nirgendwo, dass unter den Spitzenkräften unserer eigenen Profession und des Medien-Managements Solidarität gezeigt wird, um unseren für die Demokratie so wichtigen Berufsstand zu retten. Ich sehe mit Zorn, welche Einkommensgrößen in den führenden Positionen der Medienkonzerne erreicht werden, während zugleich die Redakteure mehr und mehr schuften müssen und die Honorare gesenkt wurden. Das gilt auch für die öffentlich-rechtlichen Anstalten, die von Steuergeldern gefüttert werden und sich unglaubliche technische und administrative Apparate leisten – aber an den Honoraren für junge und freie Journalisten sparen. Das darf man sich einfach nicht gefallen lassen.
Sie haben schon in den 90ern vor der Gefahr einer inneren Zensur und Verlust der Unabhängigkeit durch das Diktat des Rotstifts gewarnt und gesagt: „Wer heute Journalist werden will, muss sich auf einen harten Überlebenskampf vorbereiten.“ Wozu raten Sie heute jungen Journalisten?
Das ist sehr schwer, zumal es finanziell überaus schwierig geworden ist, sich überhaupt über Wasser zu halten, eine Familie gründen zu können, von den eigenen vier Wänden gar nicht zu reden. Wenn die älteren, abgesicherten Kollegen nicht praktische Solidarität üben, kann ich mir nicht vorstellen, wie ihnen geholfen werden kann. An diesem Geist der Solidarität hat es bisher gefehlt, dabei ist er in diesem Beruf notwendiger denn je.
Was die Qualifikation betrifft: Junge Journalisten sollten versuchen, sich vorher in einem ganz normalen Beruf durchzuschlagen und sich so weit wie möglich in der Normalität des täglichen Lebens anzusiedeln. Ich halte gar nichts davon, dass man heute von unseren jungen Journalisten weitgehend ein abgeschlossenes Hochschulstudium verlangt. Ein oder zwei Jahre Auslandserfahrung taugen viel mehr. Für den Journalismus gilt „learning by doing“, unverändert. Mit etwa achtundzwanzig als Volontär zu beginnen ist zu spät. Journalismus ist ein junger Beruf, und auch ein Beruf von Leuten, die sich einigermaßen jung halten können.
Ihr Lehrmeister Friedrich Sieburg gab Ihnen einst den Rat: „Wer Gedichte schreibt, hat die Chance, ein guter Journalist zu werden.“ Ist das noch zeitgemäß?
Ja. Absolut. Sie sehen doch: Wir haben heute eine bessere Qualität von weiblichen Journalisten als im Durchschnitt von männlichen, nicht nur im Bereich des Feuilletons, weil es wahrscheinlich mehr junge Frauen gibt, die Gedichte schreiben, als junge Männer.
Der Beginn Ihrer Laufbahn war ja auch kein Zuckerschlecken. Sie haben sich deshalb Anfang der 50er als junger Bonner Korrespondent ein Zubrot bei einer Frankfurter Werbeagentur verdient – und das als sehr lehrreiche Zeit bezeichnet. Warum?
Ich brauchte das, um mich in Bonn über Wasser halten zu können: Von „Christ und Welt“ erhielt ich ein ziemlich schäbiges Salär von 350 DM, plus 10 Pfennig für jede Zeile, wenn ich über das vereinbarte Soll hinausschrieb. Manchmal haben wir sogar mit Briefmarken bezahlt, wenn man nichts anderes mehr hatte. Aber in der Werbung habe ich auch eine ganze Menge gelernt, nämlich straffes Formulieren, Dinge auf eine prägende Form bringen. Das war also keineswegs vergeudete Zeit.
Was halten Sie eigentlich von heutigen Kurzmitteilungsformen wie Twitter und Co.?
Wenn jemand zur sprachlichen Konzentration gezwungen wird, der eine ausufernd reiche Sprache hat, ist es natürlich hilfreich. Bei einer relativ armen Sprache verstärkt es keinen guten Trend. Das aber hängt nicht vom Kanal ab, auf dem man schreibt oder spricht.
Ich sehe vor allem heute eine viel zu große Nachgiebigkeit gegenüber der Sprache der politischen Technokraten. Achten Sie doch nur mal auf die Politikersprache. Was waren das noch in den ersten Bundestagen für glanzvolle Redner und große Debatten von hoher Substanz mit Leuten wie dem von mir hochverehrten und leider früh verstorbenen Fritz Erler, einer der großen Geister der jüngeren SPD, oder Eugen Gerstenmaier und Carlo Schmidt! Jene Debatten mit ihrer geistigen und sprachlichen Höhe haben sehr viel zur inneren Autorität und Akzeptanz der Demokratie beigetragen. Dagegen hat die Sprache unserer heutigen Politiker leider nichts an Substanz und nicht mal an Glanz und Einprägsamkeit gewonnen. Zudem ist die Sprachkultur gerade innerhalb der gesetzgeberischen Körperschaften nicht hoch. Die Forderung nach einer verständlicheren Sprache ist deshalb sehr angebracht – auch im Journalismus. Aber meistens bedeutet das nur eine Absenkung des Sprachniveaus.
Wie meinen Sie das?
Ich muss jetzt leider ein persönliches Beispiel nennen. Ich habe versucht, mich durch die Kohl’schen Memoiren zu quälen – redigiert, z. T. mitgeschrieben von dem jetzigen Chefredakteur der „Bild-Zeitung“. Es ist das Peinlichste an Sprache, was sich je ein Bundeskanzler geleistet hat. Dass Kohl selber dazu nicht begabt war, ist eine andere Sache. Aber wie der Chefredakteur von „Bild“ sich als Gehilfe bei der Formulierung einer Unsprache betätigen konnte, verstehe ich überhaupt nicht. Wir Sprachgehilfen – ich war ja auch mal einer – haben doch dafür zu sorgen, dass sich die Sprache der Menschen, denen wir zu helfen versuchen, verbessert und nicht verschlimmbessert.
Als „Sprachgehilfe“ waren Sie Berater von Willy Brandt 1972-74. Und Sie sind 1968 in die SPD eingetreten, als Zeichen der Solidarität mit Willy Brandt und gegen die Kritiker seiner Ostpolitik. Wie vertragen sich denn Ihr Parteibuch und Ihre Tätigkeit bei Willy Brandt mit der von Ihnen postulierten journalistischen Unabhängigkeit?
Das ist eine sehr berechtigte Frage. Sie lässt sich wahrhaftig so beantworten: In der Zeit meiner hauptberuflichen Arbeit im Regierungsapparat und für den Kanzler habe ich jeden Kontakt zum Journalismus abgebrochen. Zur großen Enttäuschung mancher Kollegen, die in mir neben dem Bundespressechef einen zweiten Zugang zu inneren Vorgängen in der Bundesregierung sehen wollten.
Aber ich diente damals dem Bundeskanzler, was ich auch als öffentlichen Dienst empfunden habe. Es war jedoch immer klar, dass ich eines Tages in meinen eigentlichen Beruf als Journalist zurückgehen würde. Eine politische oder diplomatische Laufbahn war nie mein Ziel.
Außerdem hat meine Tätigkeit für Willy Brandt meine Unabhängigkeit als Journalist nicht im geringsten gefährdet. Ich habe mich niemals verpflichtet gefühlt, SPD-offizielle Meinungen in meiner journalistischen Arbeit zu vertreten. Zum Beispiel war ich immer ein bekennender Anhänger der Adenauerschen Westpolitik, auch innerhalb der SPD, die erst später diese Position übernommen hat.
Ein Seitenwechsel ist jedoch meist eine Einbahnstraße. Wie gelang Ihnen der Weg zurück in den Journalismus?
Bevor ich Leiter der Schreibstube von Willy Brandt wurde, war ich für das ZDF als Sonderkorrespondent in den USA. Als Brandt zurückgetreten ist, habe ich den Chefredakteur und den Intendanten gefragt, ob ich diese Arbeit wieder aufnehmen könnte. Beide sagten Ja – und ich kehrte nach Amerika zurück. Das war Gott sei Dank keine Schwierigkeit, ich hatte Glück.
Sie haben lange für öffentlich-rechtliche Medien gearbeitet – und wiederholt die Parteienherrschaft dort angeprangert. Was erwarten Sie sich eigentlich nun von dem Bundesverfassungsgerichts-Verfahren in Sachen Staatsferne des ZDF?
Ich hatte als junger Journalist das Glück, bei RIAS Berlin trotz seiner Abhängigkeit vom State Department in Washington auf eine innere Freiheit zu treffen, die ich bei keinem deutschen Sender so je wiedergefunden habe. Ich bin der Meinung, dass die Parteien in den Gremien nichts zu suchen haben. Dieses ganze System nach Parteien-Proporz, der sich spiegelt in der Besetzung der großen Jobs, halte ich für kontraproduktiv und medienfeindlich. Anders als bei der BBC, die sehr lange sehr gut mit einem völlig unpolitischen Control Board gelebt hat. Die Fernsehräte sollten von den beteiligten Ministerpräsidenten oder vom Bundespräsidenten ernannt werden – aber es sollten herausragende, unabhängige Persönlichkeiten aus den verschiedensten Systemen – Sportclubs, Kirchen, Gewerkschaften usw. – sein, die sich nicht parteipolitisch organisieren dürfen. Das ganze halblegale System der sogenannten parteipolitischen „Freundeskreise“, die ja in Wahrheit die Personalpolitik bestimmen, ist ein Unding. Ich glaube nicht, dass das mit den Weisungen der Staatsverträge übereinstimmt und vor einem ernsthaft prüfenden Verfassungsgericht Bestand hat.
Es genügt ja ein Blick über die Grenze nach Österreich, wo seit Jahr und Tag der Totalproporz herrscht. Nicht sehr ermutigend ist auch der Blick nach Frankreich, wo Regierung und Präsident einen viel zu starken Einfluss auf Fernsehen und Rundfunk haben.
Und die Berlusconi-Herrschaft über die italienischen Medien und Politik ist mit den Grundbegriffen der Demokratie schon gar nicht in Einklang zu bringen.
Auch die Zustände in den amerikanischen Medien sind alles andere als ideal – aber eine bestimmte Grundunabhängigkeit haben sie sich bewahrt. Ich glaube auch nicht, dass es Mister Rupert Murdoch auf Dauer gelingen wird, sich in Amerika in einer für die Demokratie ungesunden Machtstellung zu halten – erst recht, nachdem seine Festung England jetzt praktisch in Trümmern liegt.
Vor Rupert Murdoch haben Sie schon vor Jahren gewarnt und ihn harsch kritisiert als „umgekehrten König Midas“, dem „alles, was er anfasst, zur überzuckerten Scheiße gerät.“… Ja. (lachend)… Empfinden Sie nach dem spektakulären Aus für „News of the World“ Genugtuung?
Nein, keine Genugtuung, sondern – im Gegenteil – eine gewisse Melancholie darüber, dass sich so viele unserer britischen Kollegen hergegeben haben, dieses traurige Spiel mitzuspielen. Sie dürfen nicht vergessen: Für uns junge Journalisten in den fünfziger Jahren waren die großen Blätter der britischen Presse wie der „Observer“, „Sunday Times“ oder „Sunday Telegraph“ die Bibeln des Journalismus. Später ist das auf die „New York Times“ übergegangen, und ihren Ableger in Europa: Die „Herald Tribune“, die ich ohne jedes Zögern als die beste Zeitung der Welt bezeichne.
Nun ist aber ein dramatischer Niedergang der amerikanischen Tageszeitungen zu beobachten. Gilt dazu auch Ihre These „Was auch immer sich in den Medien in den USA vollzieht, findet zeitversetzt bei uns seinen Niederschlag“?
Ich fürchte, ja, wenn wir nicht alle Kräfte im Journalismus und auf Verlagsseite mobilisieren. Es wird sich aber eine gewisse Boulevardpresse halten – wenn auch nicht in der einstigen Machtstellung, angesichts der Tatsache, dass „Bild“ bereits etwa ein Drittel seiner Leserschaft verloren hat. Ebenso eine sehr stadt- und regionalbezogene Lokalpresse, weil dort das Anzeigengeschäft bis zu einem gewissen Grade florieren könnte. Darüber hinaus werden zwei, drei große Qualitätszeitungen einen Platz haben – die man auch gedruckt haben möchte. Die werden allerdings wesentlich teurer sein müssen als heute – und mehr Qualität bieten müssen. Denn wenn ich höre, dass z. B. die „Literarische Welt“ – ein wirkliches Schmuckstück der Springer-Presse – mit weniger als einer Handvoll Redakteuren auskommen muss bei der Vielzahl an Büchern: Das ist so nicht in der gebotenen Qualität zu leisten. Diese Erkenntnis müsste sich auch in einem Haus wie dem Springer-Konzern durchsetzen.
Ihre journalistische Laufbahn haben Sie 1946 bei „Christ und Welt“ begonnen –heute eine Beilage der „Zeit“. Wo sehen Sie die Schuld am Niedergang der einst so renommierten konfessionellen Presse?
Weil zum einen das Interesse an den Konfessionen zurückgegangen ist und weil sie es zum anderen nicht verstanden haben, sich unabhängig genug von den Lehrmeinungen zu machen, um als selbstständige Produkte existieren zu können. Sie dürfen nicht vergessen: „Christ und Welt“ hatte Ende der 40er Jahre eine höhere Auflage als die „Zeit“. Wahrscheinlich hat der damalige Verleger Georg von Holtzbrinck nicht genug in das Blatt investiert, es wurde dann 1971 an den „Rheinischen Merkur“ verscherbelt – und ging natürlich als protestantische Zeitung im großen Mantel der katholischen Bischöfe unter. Dass jetzt bei der „Zeit“ eine Beilage mit dem Titel „Christ und Welt“ wieder (lacht leise) erstanden ist, kann ich nur als eine der großen ironischen Wenden in meinem Leben bezeichnen – wie ich überhaupt mehr und mehr von der Ironie des Weltgeistes überzeugt bin.
Sie haben ja auch gefordert: „Es ist unsere Aufgabe, den Übermächtigen den Weg zu verstellen, am besten mit einer Prise des Witzes, mit dem Heinrich Heine so genial gesegnet war.“
Ja! Aber man kann nicht sagen, dass wir damit reich ausgestattet sind. Es gibt zwar genialische Ausnahmen wie den fabelhaften Zippert in der „Welt“. Der Broder, eher ein Satiriker als ein ernst zu nehmender Humorist, hat manchmal solche Momente, und im Fernsehen hatte sie Harald Schmidt, dem man wünschte, dass er dahin zurückkehrt. Junge Frauen oder Männer mit der Gabe des Witzes sollte man unter allen Umständen fördern. Im FAZ-Feuilleton gibt es solche – wie es dort überhaupt eine erstaunliche Zahl von guten Schreibern gibt. Ich bin ja einer der Kritiker von Frank Schirrmacher (lacht leise) gewesen und hab’ dessen Launen nicht immer als so köstlich empfunden. Aber ich muss sagen: Hut ab, es fällt ihm viel ein. Er macht schon einiges von dem vor, was wir noch mehr von den großen Zeitungen erwarten – ein Feuilleton mit Niveau und voller Überraschungen.
Also haben Sie sich mit Frank Schirrmacher versöhnt, nachdem Sie ihn 2003 in der „taz“ u. a. als „Dr. Frank-Felix Schirrmacher-Krull“ heftig kritisiert haben?
Ja, nicht offiziell versöhnt, aber wir haben uns insofern stillschweigend geeinigt, dass ich dann und wann der Gnade der Mitarbeit teilhaftig bin. Ich zögere auch nicht anzuerkennen, dass in den letzten Jahren seine große Begabung als inspirierender Redakteur zum Ausdruck gekommen ist.
„Ich kenne keinen guten Journalisten, bei dem nicht ein Hauch von Hochstaplertum zu beobachten ist.“ Trifft diese Beobachtung von Ihnen auch auf Sie selbst zu?
Da wir uns in unserem Beruf oft völlig neue Themen erarbeiten müssen, gehört eine gewisse Neigung zum Bluff dazu. Das kann sich ganz produktiv auswirken, aber auch zu einem gewissen Hochmut führen, wenn daraus das Gefühl erwächst, alles zu können. Aber das ändert sich mit dem Alter. Wenn man in die Jahre kommt, erkennt man, dass man niemals so wichtig war, wie man sich genommen hat.
Nina Grunenberg hat in der „Zeit“ zu Ihrem Achtzigsten unter dem Titel „Der Einmischer“ geschrieben: „Er steigt gerne auf die Kanzel, manchmal zornig, mitunter pathetisch, aber immer als häufig autoritäre Stimme der Kritik zu vernehmen.“ Sehen Sie sich – der Sohn eines schwäbischen Pfarrers – selbst auch auf der Kanzel?
Nö, eigentlich nicht. Ich hab aber mit meinem Vater eines gemeinsam: Mein Vater hat mir nicht so lange vor seinem Tod gesagt, er sei sonntags niemals auf die Kanzel gestiegen ohne die Angst zu versagen. Ich darf von mir sagen, dass ich nie einen Artikel oder ein Buch angefangen habe ohne die Furcht, dass ich der Aufgabe nicht gewachsen sein könnte.
Seit 1982 leben Sie nun in Südfrankreich. In „Le Monde“ hieß es nun über Ihr jüngstes Buch „Arletty und ihr deutscher Offizier“: „Es gibt wenige deutsche Bücher, die sich mit solchem Vergnügen lesen oder die zwischen den Zeilen von einer solchen Liebe zu Frankreich zeugen.“ Ist Ihnen Frankreich heute zur eigentlichen Heimat geworden?
Ach, jemand, dessen Familie ursprünglich aus Tübingen, mütterlicherseits aus einer sorbischen Familie aus Ostdeutschland stammt und der lange in Amerika gelebt hat, wird mit einem Rest seiner Seele immer Tübinger bleiben, ein Zipfelchen seiner Seele in Ostdeutschland lassen und etwas Heimweh nach der Offenheit der Amerikaner und der unendlichen Weite der Landschaft behalten. Ich lebe nun aber seit fast 30 Jahren in Frankreich. Ich fühle mich in Croix-Valmer zu Hause, auch geborgen, ich wähle hier, zahle Steuern, nehme am lokalen Geschehen Anteil – das ist mehr, als mir je zuvor beschieden war in meinem erwachsenen Leben.
Sie arbeiten an einem Ort, den Deutsche sonst mit Sonne und Urlaub verbinden. In der „Zeit“ stand, Sie würden die Vorhänge zuziehen, um zu schreiben. Stimmt das?
Nein! Ich habe die Läden weit offen. Es ist ein großes Vorurteil, dass die Sonne faul macht. Ich arbeite einfach leichter und lieber, wenn draußen die Sonne scheint. Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht Dankbarkeit empfinde, dass wir hier sein können und so gut aufgenommen wurden. Das klingt wahnsinnig sentimental, aber wenn mir 1945 – als ich als rothaariges, halb verhungertes Bürschchen aus der amerikanischen Gefangenschaft kam – jemand gesagt hätte, wie und wo ich während der späten Tage meines Lebens und mit welcher Frau zusammen bin, dann hätte ich gesagt: „Naja, ab zur nächsten Nervenheilanstalt.“ Es ist ein großes Wunder.
Das Interview mit Klaus Harpprecht ist in gedruckter Form erschienen in unserer Reihe „best of …Theodor Wolff Preis für Zeitungsjournalismus 2011“ , das als Special der gedruckten Ausgabe von medium magazin 9/2011 beiliegt (ET: 7.9.2011). Darin werden alle diesjährigen Preisträger – Uwe Ebbinghaus, Rena Lehmann, Mely Kiyak, Kirsten Küppers, Jan Rübel und Klaus Harpprecht– mit Interviews, ihren prämierten Arbeiten und Begründungen der Jury vorgestellt. Der Theodor Wolff-Preis wird jährlich vom Bundesverband der deutschen Zeitungsverleger e.V. (BDZV) verliehen für „Texte, die ein bedeutsames Thema behandeln oder wegen ihres Neuigkeitsgehalts und der Art der Präsentation für einen wachen Journalismus beispielhaft erscheinen“.
Die feierliche Preisverleihung findet am Abend des 6.September 2011 in Bonn statt.