Herr Keese, was war der bisher größte Scoop, den Sie im „Online first“-Prinzip veröffentlichen konnten?
Christoph Keese: Unser größter Scoop in Kombination zwischen Zeitungen und Online fand im letzten Herbst statt – vor dem Relaunch. Es war die Geschichte mit den Polonium-Spuren. Unsere Hamburger Redaktion, bis dato eine reine Zeitungsredaktion, hatte gehört, dass eine Verdachtsspur nach Hamburg führt. Das war am Nachmittag. Die Kollegen riefen in der Zentrale an und konnten ihre Recherche sehr schnell online veröffentlichen. Wenig später tauchte der Verdacht der Polizei auf, dass eine German-Wings-Maschine ebenfalls mit Polonium verseucht sein könnte, die Düsseldorfer Redaktion ging der Sache nach. Die Beiträge sind zuerst online und dann in den Zeitungen erschienen: „Welt“, „Welt Kompakt“, „Welt am Sonntag“ und „Berliner Morgenpost“. Ein Glücksfall in einer frühen Phase des Projekts. Heute findet derart enge Zusammenarbeit täglich statt.
Und viele waren vermutlich eifersüchtig, dass Sie ihren Scoop mit allen teilen mussten.
Nein, den Erfolg konnten sich die Hamburger und Düsseldorfer ja direkt zuschreiben. Warum sollten sie weniger stolz sein, bloß weil es online zuerst erschienen ist? Was wann wo erscheint, legen die Ressorts oft selbst fest. Es gibt in den Ressort immer einen Gesamtressortleiter, der für alle Titel zuständig ist – und drei Stellvertreter: einen für die „Berliner Morgenpost“, einen für die „Welt“ und einen für die „Welt am Sonntag“. Die Konfliktpotenziale sind da eher begrenzt. Außerdem schafft das Internet neue Möglichkeiten: Wir können wichtigen Interviewpartnern sehr hohe Reichweite bieten. Das macht uns für alle interessanter – vom Vorstandsvorsitzenden über den Nobelpreisträger bis zum Schauspieler.
Am Anfang waren längst nicht alle Mitarbeiter von „Online first“ begeistert. Wie ist jetzt die Stimmungslage?
Ganz gut. Wir haben in kurzer Zeit viel erreicht. In der Redaktion kenne ich niemanden, der die Online-Offensive rundweg ablehnt. Die meisten Kollegen sehen den Aufbruch als notwendig oder reizvoll an, viele zeigen echten Online-Enthusiasmus. Wir wollen aber auch weiter sehr gute Zeitungen machen. Wie man das schafft – Online-Offensive und gute Zeitungen gleichzeitig -, das führt zu legitimen Fragen. Wir besprechen das Ressort für Ressort, Themengebiet für Themengebiet, und finden eigentlich immer praktikable Antworten.
Die Vernetzung ist die eine Seite. Was bedeutet es aber konkret für den Arbeitsablauf der Redaktion im Unterschied zu früher?
Es gibt deutliche Unterschiede bei den Redaktionsschlüssen. Online hat eine Art Primetime zwischen 8 und 17 Uhr – für Nachrichtensites ist das Internet ein Büromedium. Nach 17 Uhr lässt die „Einschaltquote“ stark nach. Die wichtigste Zeit liegt zwischen 10.30 und 13.30 Uhr – wenn die Leute nach den ersten Konferenzen im Büro eine Pause einlegen. Da halten klassische Zeitungsredaktionen aber gerade ihre Frühkonferenz ab; sie arbeiten auf einen Redaktionsschluss von 17:30 Uhr für die Frühausgabe hin. Diesen Zeitunterschied muss man überbrücken. Wir haben Lösungen dafür gefunden und bieten heute in der Internet-Primetime gute eigene Geschichten an. Aber das ist erst ein Anfang – wir wollen noch besser werden.
Verlangt das „Online-first“-Prinzip ein Umdenken beim Journalisten?
Ja und nein: Man braucht ganz klassisch ausgebildete Journalisten, die viel von Nachrichtengewichtung verstehen und gut schreiben. Diese Kollegen müssen Zusatzqualifikationen für den Umgang mit Multimedia erwerben: Bilder aussuchen, Umfragen formulieren, Videos einbauen. Der normale Redakteur macht aber nicht alles auf einmal und allein: Text schreiben, Ton aufnehmen, Bilder schneiden. Es mag Fälle geben, wo das zu guten Ergebnissen führt. Aber im normalen Nachrichtengeschäft gilt normale Arbeitsteilung.
Wie könnte der ideale „Online first“-Journalist aussehen?
Nehmen wir ein Beispiel: Richard Herzinger, von der „Zeit“ und der „Weltwoche“ zu uns gekommen, ist ein ausgezeichneter Kommentator und Essayist. Er begeisterte sich bei uns sofort für die Möglichkeiten des Internets. Künftig verantwortet er unsere Welt Online Debatte (debatte.welt.de). Vieles, was Herzinger und seine Kollegen online schreiben, drucken wir danach in den Zeitungen ab. Bei der „Welt am Sonntag“ tun wir das mit großen Texten Herzingers schon seit Monaten. Das kann ein Typus des Online-First-Journalisten sein, aber es wird mehrere andere geben.
Was wird jetzt aber aus der „WamS“? Bevor am Sonntag das Blatt erscheint, stehen alle Scoops längst im Netz.
Journalismus besteht ja nicht nur aus Scoops. Jede Zeitung hat ihre Eigenheiten, die sie auch in Zukunft von Online unterscheiden wird. Richtig ist aber, dass die schiere Existenz von Online die Zeitungsgeschichten verändert. Besonders bei der Sonntagszeitung muss man weiter denken. Aber das müssten wir auch, wenn es Welt Online gar nicht gäbe. Als Zeitungsmacher können wir die journalistische Konkurrenz durch das Internet nicht einfach ignorieren.
Wie sind die ersten Erfahrungen mit dem Relaunch von „Welt-Online“?
Die Seite wird gut angenommen. Unsere Leser schicken uns Verbesserungsvorschläge, manche davon haben wir umgesetzt. Oft geht es um Kleinigkeiten, die aber wichtig sind: Welcher Knopf steht wo? Wie groß ist ein Klickfeld? Wir führen gerade einen Gebrauchstest, die Techniker sagen Usability-Test, durch. Mit Hilfe von Blickaufzeichnung sieht man, wie das Auge des Betrachters über die Seite wandert. Das liefert wertvolle Hinweise.
Mit welchem Ergebnis?
Ist „Audio“ die bessere Bezeichnung für Tonangebote oder „Podcast“? Über Detailfragen wie diese muss man auf Grund von Untersuchungen diskutieren. Webseiten leben, sie werden ständig weiterentwickelt.
Es gibt Websites wie digg.com, die Nutzer über Artikel und ihre Positionierung auf der Seite abstimmen lassen. Können Sie sich das auch für Welt-Online vorstellen?
Wir liefern Auswahl und Urteil. Der Journalist entscheidet, was wo gesendet wird. Das ist der Grund, warum man Welt Online anklickt. Wir sind keine Blogger, sondern eine Redaktion – also eine Gemeinschaft von Journalisten, die nach festen Regeln bewertet und auswählt. Wir binden Blogs in die Seite ein, auch auf der Startseite, stellen sie aber nicht in den Vordergrund.
Alle Angebote auf Welt-Online sind kostenlos, inklusive Archiv. Die meisten Verlage haben sich sehr viel Mühe gegeben, endlich bezahlpflichtige Angebote im Onlinebereich zu installieren. Wieso jetzt diese Kehrtwende?
Die Erfahrung zeigt: Sobald man Registrierung und Bezahlpflicht einführt, bleiben die Besucher aus. Deswegen gehen wir den Weg des komplett kostenlosen Angebots. Wir sind überzeugt, dass Werbefinanzierung möglich ist. Der Markt wächst schnell, und zwar nicht nur Bannerwerbung, auch bei der Suchwortwerbung. Wenn man in unserem Archiv die Stichworte wie „Reise“ oder „Spanien“ eingibt, erscheint über der Trefferliste Suchwortindizierte Werbung. Daraus kann eine interessante Umsatzquelle entstehen.
Rechnen Sie damit, dass Sie mit „Online first“ und der Gemeinschaftsredaktion für die „Welt“-Gruppe einen Trend setzen, dem andere Verlage folgen werden, sogar müssen?
Das kann ich nicht beurteilen. Jede Redaktion muss ihren eigenen Weg finden. Manche werden bei der traditionellen Trennung von Online und Print bleiben, andere werden einen ähnlichen Weg gehen wie wir. Für uns ist dieses Modell das beste: Größtmögliche Zusammenarbeit bei gleichzeitiger Schärfung des Profils aller Titel.
Anders als die drei „Welt“-Titel hat die „Berliner Morgenpost“ noch einen eigenen Online-Auftritt. Widerspricht das nicht Ihrem Konzept?
Nein. Morgenpost.de wird bleiben, und übrigens noch dieses Jahr überarbeitet. Welt Online ist die überregionale Website, Morgenpost.de die regionale. Regionales ist im Internet überaus wichtig. Rund ein Drittel aller Anfragen im Netz haben
mit lokalen Themen zu tun.
Wie bemessen Sie die Qualität von „Welt-Online? Über die Klick-Zahls?
Klar, wir schauen auf die Klicks. Das ist spannend und löst einen gesunden Ehrgeiz aus. Aber entscheiden tun wir danach nicht. Was auf der Hauptseite oder in den Ressorts aufgemacht wird, entscheiden wir nach journalistischen Kriterien. Beim Formulieren der Zeilen und Vorspänne bemühen wir uns, den Kern der Sache zu treffen. Wenn’s dann gut geklickt wird, umso besser.
Es gilt also: Lieber weniger geklickt, dafür besserer Journalismus?
Oh, eine Kulturpessimistenfrage: Qualität und Erfolg schließen einander aus! So ist es im Internet aber nicht. In vielen Wochen stehen Essays zu schwierigen Themen wie Afghanistan oder der EU-Verfassung in der Top 10 unserer internen Auswertung. Vorletzte Woche schaffte es unserer Satirekanal „Glasauge“ mit einem Beitrag auf Platz 1! Mal gewinnt Britney Spears, mal Angela Merkel, mal die Hochkultur, mal ein Kommentar, mal eine respektlose Satire – so lebendig ist das Internet.
Doch was passiert mit der gedruckten „Welt“? Wie lange geben Sie ihr noch?
Noch lange. Ich glaube nicht an den Untergang der Zeitungen. Vermutlich beflügelt das Internet die Zeitung sogar, zumindest ihre Reichweite. Untersuchungen aus den USA zeigen, dass Markenbekanntheit und Reichweite von Zeitungen mit erfolgreichen Websites steigen. Zeitungen verschwinden schon deswegen nicht, weil sie ein enorm schnelles Medium sind. Eine Wissensdoppelseite in der „Welt am Sonntag“ über Wale, Löwen, Allergien, den Vatikan oder Star Wars bringt es leicht auf ein Datenvolumen von zwei Gigabyte – bei der Zeitung dauert das Laden eine halbe Sekunde: Umblättern, fertig! Machen Sie das mal im Internet, das kann dauern, auch mit DSL. Bequem im Sessel sitzen und blitzschnell zehn große Artikel auf eine angenehm raschelnde Papierfläche laden – das hat doch was.
Verraten Sie uns Ihr Geheimnis für die Online-Strategie?
Eine Website muss aus sich heraus im Internet erfolgreich sein. Sie kann sich nicht allein darüber definieren, dass sie Probeabonnements für die Zeitung gewinnt. Wenn man sie nur als Hilfsarbeiterin der Zeitung versteht, wird sie immer ein Sklavendasein führen. Im Internet ist erfolgreich, wer sich mit Haut und Haar aufs Internet einlässt. Das tun wir gerade.
Andere Verlage, z.B. die WAZ-Gruppe, planen im lokalen Bereich eine Art Grundversorgung auch mit sozialen Online-Communitys. Lassen Sie sich hier vielleicht eine Chance entgehen?
Bei „Welt Online“ geht es im Kern um Journalismus, aber mit unserer neuen Debatten-Seite wollen wir auch eine Gemeinde an uns binden. Bei der „Berliner Morgenpost“ wird der Community-Gedanke weiter im Vordergrund stehen; bei lokalen Medien bietet sich das an.
Sie sind Chef – oder Primus inter Pares – einer sehr breit aufgestellten Redaktion, die sowohl online als auch gedruckt mit unterschiedlichen Titeln auftritt. Auch dort gibt es den Vorwurf der Gleichförmigkeit. Wie stellen Sie sicher, dass die einzelnen Titel ihre Seele behalten?
Ich bin nicht der Chef. Wir sind drei gleichberechtigte Chefredakteure, innerhalb derer ich eine Sprecherfunktion wahrnehme. Jeder arbeitet mit seiner ganzen Kraft daran, die ihm anvertrauten Zeitungen und Websites zu profilieren. Und ich glaube, das gelingt uns sehr gut. „Welt“, „Welt am Sonntag“, „Welt Kompakt“ und „Berliner Morgenpost“ sind nun wirklich nicht gleichförmig, sondern höchst unterschiedlich. Und alle Zeitungen unterscheiden sich erheblich von „Welt Online“, das ein eigenes Profil gewonnen hat.
Wie wir das sicherstellen? Durch eigensinnige Köpfe, die ihren Kopf durchsetzen – in der Chefredaktion, in den Ressortleitungen, in den Ressorts.
Warum dann aber überhaupt die Gemeinschaftsredaktion?
Weil wir so Arbeit teilen können, die überall anfällt, und Spezialitäten pflegen, die es nur in einem Titel gibt. So gibt es Fachleute wie Fußball-oder Telekommunikations-Experten, die für alle Titel arbeiten, und Leitartikler, die ihre Heimat vor allem in einer Zeitung haben.
Wie viele Redakteure arbeiten denn themenbezogen für mehrere Titel?
Etwa zwei Drittel arbeiten übergreifend für alle Titel, ein Drittel konzentriert sich auf einen Titel. Die Chefredakteure, stellvertretenden Chefredakteure, Blattmacher und stellvertretenden Ressortleiter kümmern sich nur um ihr eigenes Blatt oder ihre eigene Website.
Wie viele Redakteure arbeiten jetzt bei der großen neuen „Welt“?
Über 400 nach der Redaktionsverkleinerung, die wir vor einigen Wochen angekündigt haben.
Liegen irgendwo noch weitere Rationalisierungspläne in der Schublade?
Nein, aber wir werden immer beweglich bleiben und flexibel reagieren. Nur so können wir erfolgreich bleiben.
Tipp
Wie die Kollegen in Regionalzeitungen den Berliner Testfall sehen, siehe auch die Umfrage in der „medium magazin“-Chefrunde, Seite 22 ff.
Downloadtipp:
Das ausführliche Gespräch mit Christoph Keese, in dem er sich u.a. auch zu den Arbeitsbedingungen für die Journalisten und zu den neuen ABGs für Freie, zu Suchmaschinen und Online-Gesetzmäßigkeiten für Nachrichten äußert, ist abrufbar unter ww.mediummagazin.de, Rubrik download.
Erschienen in Ausgabe 4/2007 in der Rubrik „Titel“ auf Seite 18 bis 21 Autor/en: St. Grimberg und M. Langeder. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.