Am medialen Pranger

Wie der Psychiater und Medienopferexperte Mario Gmür  die Kachelmann-Berichterstattung und die Folgen beurteilt.

Interview: Katy Walther

Wie beurteilen Sie die Berichterstattung schon vor Beginn des Kachelmann-Prozesses?

Mario Gmür: Die Grenzen seriösen Journalismus‘ wurden hier deutlich überschritten. Es wurde ein Schauprozess außerhalb des Gerichtssaals veranstaltet mit Zeugeneinvernahmen, Bewertungen, Anklagen und Gegendarstellungen. Jörg Kachelmann wurde an den medialen Pranger gestellt und ein Bloßstellungsjournalismus mit Details aus Kachelmanns Privatleben betrieben, die die Öffentlichkeit im Allgemeinen und erst recht nicht im Vorfeld eines Prozesses angehen.

Wie wichtig war Kachelmanns Prominenz für das Medieninteresse?

Die mediale Fallhöhe ist ausschlaggebend für die Berichterstattung. Bei einem weniger Prominenten hätte es zum Zeitpunkt der Verhandlung eine Gerichtsberichterstattung gegeben oder auch nicht. Bei Kachelmann war das anders. Durch seine Dauerpräsenz am Bildschirm hat er sich eine besondere Prominenz erworben, die Begehrlichkeiten weckt. Außerdem fasziniert die Diskrepanz zwischen Schein und Sein, also dem Bild des Publikumslieblings, der er war, und der Kehrseite dessen. Wenn man hinter einem Engel einen Teufel aufdecken kann, ist das natürlich von großem Aufmerksamkeitswert. Die Polarisierung erzeugt Spannung.

 

Kachelmanns Richter

Wie Gerichtsreporter und -reporterinnen die umstrittene Berichterstattung über den Kachelmann-Prozess bewerten: Antworten in der medium magazin-Umfrage von: Christoph Albrecht-Heider (Frankfurter Rundschau), Gisela Friedrichsen (Spiegel), Bernd-Ulrich Hagen (ZDF), Alfons Kaiser (FAZ), Tanja May (Bunte) und Sabine Rückert (Die Zeit). (s. a. Beitrag „Das Mediengericht“ in medium magazin 4-2011)

Trifft die Staatsanwaltschaft eine Mitschuld an Kachelmanns Vorverurteilung in den Medien?

Es gibt eine Tendenz, Staatsanwaltschaften in den Boulevardisierungsstil mit einzubeziehen. Ob das für den Kachelmann-Fall gilt, weiß ich nicht. Auf jeden Fall nimmt die Kommunikation der Staatsanwaltschaften zu, was verschiedene Gründe hat. Manche Staatsanwälte brechen ein und gehen in die Knie vor der drängenden Medienmeute. Daneben gibt es aber auch einen gewissen Zugzwang, Dinge u. a. zum Schutz des Verhafteten klarstellen oder bestätigen zu müssen. Das dritte aber ist, und hier wird es problematisch, dass die Staatsanwaltschaft auch eine Streitpartei ist, die parteiliche Interessen hat, und unter klarem Missbrauch der öffentlichen Aufmerksamkeit die Medien zur Stimmungsmache für die eigene Sache in einem Verfahren einsetzt.

Und Kachelmann? Hat er die mediale Hetzjagd auf seine Person durch sein Agieren anfangs nicht selbst noch befeuert?

Diese Frage ist schwer zu beantworten. Letztlich richtete sich das Hauptaugenmerk Kachelmanns ja auf einen für ihn günstigen Prozessausgang. Außerdem ist er sicher auch nicht frei von Empfehlungen seines Anwalts oder anderer Berater gewesen. Natürlich hätte Kachelmann viele Möglichkeiten gehabt. Er hätte nichts sagen können und den Prozess abwarten. Manchmal kann es aber schon sinnvoll sein, gewisse Behauptungen richtigzustellen. Eines aber hätte Kachelmann auch durch eine andere Strategie nicht erreicht: nämlich das nicht berichtet worden wäre. Die Lawine rollte, als sein Name ins Spiel kam.

Haben die Medien überhaupt eine Wahl, wenn sich Klatsch und Vermutungen offenbar besser verkaufen als seriöse Berichterstattung?

Natürlich. Die, sich an die ethischen Richtlinien und Werte eines qualitativ hochwertigen Journalismus zu halten. Dass sich Trash besser verkauft, ist ein übles gesellschaftliches Problem. Aber das Argument, dass es sonst jemand anderes macht oder man kein Geld mehr verdient, kann ja jeder Drogenhändler sagen, der eine Familie zu ernähren hat. Es erklärt es vielleicht, es entschuldigt es aber nicht.

Neben Kachelmann gibt es ja noch ein zweites Medienopfer: Kachelmanns mutmaßliches Opfer. Gegen die Frau wurde besonders in sozialen Netzwerken Front gemacht. Erzeugen soziale Medien wie Facebook & Co. eine neue Art Medienopfer?

Wir sprechen hier schon länger von Internetopfern. Es hat eine Ausweitung des Phänomens von den Printmedien auf die elektronischen Medien gegeben. Dort ist dann jeder Bürger Journalist und kann Medienopfer produzieren“, erklärt Gmür. „Die Verbreitung von Behauptungen und Anschuldigungen ist unkontrollierbar und irreversibler noch als in den herkömmlichen Medien. Was einmal geschrieben wurde, ist dauerabrufbar und kaum mehr zu löschen, was eine große Qual für die Opfer bedeuten kann.

Mit welchen Langzeitfolgen haben Medienopfer Ihrer Erfahrung nach zu kämpfen?

Das ist unterschiedlich. Die Folgen reichen von phobischem Rückzug, des Sich-nicht-mehr-in-die-Öffentlichkeit-wagens, und zwar nicht nur in die größere, sondern auch in die engere, über ein Gefühl der Ohnmacht und des Ausgeliefertseins an die Situation, ein Bashing-Opfer zu sein, bis hin zu Depressionen und Suizidgedanken.

Gibt es über ethische Grundsätze hinaus genug Opferschutz?

Nein. Und ich bin davon überzeugt, dass es nur mit ganz strengen strafrechtlichen Bestimmungen und hohen Geldstrafen für die die Grenzen überschreitenden Medien funktionieren kann. Wenn es nur Zurechtweisungen, kleinere Bußen usw. gibt, dann wird das keinen Erfolg haben. Wie bei einem Geschäftsmann, der den Strafzettel für das falsch geparkte Auto vor dem 5-Sterne-Restaurant einfach mit auf die Geschäftsrechnung setzt. Nur wenn eine Zeitung einen großen Teil der Einnahmen als Entschädigung oder Strafe zahlen muss, kann sie zurechtgewiesen werden. Bei der immer wieder in der Kritik stehenden „Bildzeitung“ z. B. wäre das je nach Schwere der Verletzung meiner Ansicht nach eine Größenordnung von einem Monatsgewinn bis hin zum Gewinn eines halben Jahres.

Und Kachelmann? Kann er im Falle eines Freispruchs wieder vor der Kamera arbeiten?

Natürlich bleibt immer etwas hängen, wie bei Bill Clinton, der ein Etikett bekommen hat. Dennoch ist es beim Boulevard so, dass es im Fall eines Freispruches einen Rebound-Effekt gibt. Kachelmann wird als Tausendsassa hervorgehen, als jemand, der vom Gericht und vom Schicksal freigesprochen wurde, er wird als Anklageopfer gehandelt werden und eine gewisse neue Heldenrolle bekommen, die er mit seinem Maulwerk sicher genügend in Szene zu setzen versteht.

Zur Person

Mario Gmür, geboren 1945, studierte in Genf und Zürich Medizin. Danach absolvierte er eine Ausbildung zum Psychiater, Psychotherapeuten und Psychoanalytiker. Bekannt geworden ist er durch seine Bücher „Der öffentliche Mensch“ (dtv, 2002), „Das Medienopfersyndrom“ (Verlag Reinhardt, 2007) und „Die Unfähigkeit zu zweifeln“ (Klett-Cotta, 2006). Gmür lebt und arbeitet in der Schweiz.